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Detroit

Wut im Bauch

| Pamela Jahn |
Nach zwei ebenso brisanten wie umstrittenen Kriegsfilmen geht Kathryn Bigelow mit „Detroit“ einen Schritt zurück in der Zeit und landet am Ende doch wieder mitten im Hier und Jetzt. Ein Gespräch über Engagement, Mitgefühl und peinliche Präsidenten.

Kathryn Bigelow trägt schwarz. Rabenschwarz. Eigentlich fast immer. Jedoch scheint ihr gedämpftes Outfit heute besonders angebracht. Und das nicht nur, weil wir uns in einem exquisiten Londoner Hotel gegenübersitzen, um über ihren neuen Film zu sprechen, der auf den vom Rassismus geplagten Straßen von Detroit am Ende der sechziger Jahre spielt, sondern weil die rechtsextremen Ausschreitungen in Charlottesville am Wochenende vor unserem Gespräch erneut gezeigt haben, wie lebendig Rassendiskriminierung, Fremdenhass und die Gewalt gegen Schwarze in den USA bis heute sind. Entsprechend getrübt ist die Stimmung an diesem schwülen Sommertag im August und die Oscar-gekrönte Regisseurin hat Mühe, ihre Wut im Bauch zu verbergen: „Es war eine schreckliche Gräueltat, die es aufs Schärfste zu verurteilen gilt.“

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Verübeln kann man ihr die Empörung nicht. Schon gar nicht, wenn man sich in dem Zusammenhang Bigelows mit Hochspannung erwarteten neuen Film Detroit anschaut, der dem Kinostart in den USA kaum zwei Wochen vor den Ereignissen in Charlottesville aufgrund seiner heiklen Thematik ebenfalls für einigen Zündstoff gesorgt hat. Denn das jüngste Werk der 65-jährigen Meisterin des Adrenalin-Kinos befasst sich konkret mit dem blutigen Rassenkrieg zwischen Schwarz und Weiß, der im Juli 1967 die einstige Automobil-Metropole erschütterte. Geschürt wurden die Auseinandersetzungen damals durch die Polizeirazzia in einer Bar im Schwarzenviertel, die bald zu Prügeleien führte und sich innerhalb weniger Stunden zu einem Bürgerkrieg ausweitete. Die schwarze Bevölkerung fühlte sich von den weißen Ordnungshütern schikaniert. Als die Gewalt nicht mehr anders zu stoppen schien, schickte US-Präsident Lyndon B. Johnson die Nationalgarde in die Stadt. Am Ende der Unruhen hatte Detroit über vierzig Tote, zahlreiche Verletze und tausende Verhaftungen zu verzeichnen.

Einer der beträchtlichsten Vorfälle, den Bigelow in Detroit in gewohnt präzisen, bisweilen niederschmetternden Bildern nachzeichnet, ereignete sich in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli 1967, als ein Einsatzkommando der Polizei das Nebengebäude des zwielichtigen Algier-Motels am Rande des Distrikts Virginia Park stürmte, aus dem zuvor angeblich mehrere Schüsse abgefeuert worden waren. Fünf junge, farbige Männer und zwei weiße Studentinnen aus Ohio, die der öden Provinz entflohen waren, um in der Stadt nach Zerstreuung zu suchen, werden verhaftet und über endlose Stunden von den aufgeputschten Ordnungshütern, allen voran der unberechenbare Polizeibeamte Philip Krauss (Will Poulter), im Korridor festgenagelt. Neben Polizei und Militär ist auch der farbige Sicherheitsbedienstete Melvin Dismukes (John Boyega) vor Ort, um nach dem Rechten zu schauen, jedoch dauert es nicht lang, bis sich der aufrichtige Helfer selbst in eine Mordanklage verstrickt sieht, als es darum geht, einen Schuldigen für die drei Todesopfer zu finden, die am Morgen danach im Motel aufgefunden werden. Die Todesursache: Erschossen durch Polizeikugeln.

Nach The Hurt Locker und Zero Dark Thirty, ist Detroit bereits die dritte Zusammenarbeit zwischen Bigelow und dem ehemaligen Journalisten Mark Boal, der nicht nur die Idee zum Film lieferte, sondern wie gewohnt ein fesselndes, akribisch recherchiertes Drehbuch beisteuerte. Virtuos umgesetzt von der Regisseurin und Kameramann Barry Ackroyd, der seinen effektiven, naturalistischen Stil vor allem in den sozialkritischen Dramen von Ken Loach sowie den Extremfilmen von Paul Greengrass perfektionierte, gelingt es Bigelow auch fernab der schlimmsten Kriegszonen unserer Zeit eine Atmosphäre von permanenter Bedrohung zu kreieren, die nicht nur unter die Haut geht, sondern einem buchstäblich das Fell über die Ohren zieht.

Doch das Erschreckendste daran: Selten war ein Film, der fünfzig Jahre in der Vergangenheit spielt so aktuell wie heute, wo Rassismus und Polizeigewalt weiterhin den Alltag in Amerika bestimmen, mittlerweile sogar hoffähig geworden sind. Dass der Film trotz des großen Zuspruchs seitens der afroamerikanischen Gemeinschaft in der Heimat weitestgehend an den Kinokassen enttäuschte, überrascht denn auch wenig. Tatsächlich ist Detroit, diese kluge, wütende und unbequeme psychische wie körperliche Kinoerfahrung, das narrative Konstrukt unserer eigenen brutalen Realität, die uns umgibt. Was bleibt, ist ein Film, der mit dem innigen Hass und der Gewalt, der darin zum Ausdruck kommen, gefeiter umzugehen scheint,  als mit dem Schmerz, der überlebt. Leicht verdaulich ist das nicht, konsequent und dringend allemal.

Frau Bigelow, Sie sind Ende der sechziger Jahre selbst auf die Straße gegangen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Damals waren Sie noch ein Teenager – wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?

Ich bin im nördlichen Kalifornien aufgewachsen, damals bei den Demonstrationen dabei gewesen zu sein, hat mir vor allem gezeigt, was es heißt, eine kollektive Stimme zu haben, und wie kraftvoll und stark diese Stimme sein kann. Das war sehr wichtig für mich.

Als Mark Boal zum ersten Mal mit der Idee zum Drehbuch an Sie herantrat, war der Polizist, der im August 2014 den jungen Schwarzen Michael Brown erschossen hatte, gerade von der Anklage befreit worden.

Ja, etwa um diese Zeit. Das war… es ist kompliziert. Rassismus, Polizeigewalt, da ist immer unheimlich viel Emotionalität im Spiel. Aber als ich parallel von dem Fall im Algiers-Motel erfuhr, dachte ich mir: Das ist jetzt fünfzig Jahre her und trotzdem kommt es einem vor, als sei das alles erst gestern passiert, oder morgen. Ich hatte das Gefühl, die Ereignisse würden sich permanent wiederholen – ob Trayvon Martin oder Philando Castile, Freddy Gray oder Eric Garner. Es ist höchste Zeit, dass wir in Amerika einen sinnvollen Dialog darüber führen, was da passiert. Natürlich geht es mir als Regisseurin immer auch darum, spannende Geschichten zu erzählen, aber das Material muss für mich in erster Linie eine soziale Bedeutung haben. Und diese unmittelbare Relevanz habe ich hier gespürt. Das hat mich motiviert, den Fall zu verfilmen. Kein Mitgefühl zu zeigen, heißt Gleichgültigkeit zu praktizieren.

Geht es Ihnen in erster Linie darum, Mitgefühl zu wecken?

Ich denke schon. Wobei es jedem Zuschauer selber überlassen bleibt, wie er mit dem letzten Teil des Films umgeht. Wir haben uns bemüht, die Situation so gut recherchiert, akkurat und authentisch wie möglich darzustellen. Nun ist es am Publikum, sich das Ergebnis anzuschauen und in irgendeiner Form darauf zu reagieren.

Bis auf den Polizisten Philip Krauss, gespielt von Will Poulter, sind alle Figuren im Film den realen Personen nachempfunden, die in besagter Nacht im Algiers Motel anwesend waren. Haben Sie noch woanders zugunsten der Handlung auf wahre die Wahrheit verzichtet?

Krauss ist zwar ein Gemisch aus verschieden Charakteren, aber man darf auch nicht vergessen, dass es sich hier nicht um eine Dokumentation handelt. Der Film ist die Dramatisierung einer Reihe von Ereignissen. Das heißt, vieles musste komprimiert werden. Das betrifft vor allem die Figur von Krauss, aber vor allem auch die Gerichtverhandlungen. Der Prozess dauerte insgesamt anderthalb Jahre, in Wirklichkeit waren es sogar drei separate Verfahren, die wir im Film zu einem zusammenziehen. Entstanden ist daraus ein zwei Stunden, fünfzehn Minuten langer Kinofilm, obwohl das Material sicherlich auch eine mehrteilige Miniserie hergegeben hätte.

Was war die größte Freiheit, die Sie sich erlaubt haben?

Genau das. Die Tatsache, etwas derart Kompliziertes extrem zu verdichten, um das Ganze in eine narrative Form zu bringen. Das ist nicht einfach. Denn gleichzeitig möchte man als Filmemacher natürlich auch ein möglichst großes Publikum erreichen, um den Dialog zu fördern. Das heißt, auch in der Hinsicht bleiben Kompromisse nicht aus.

Denken Sie, dass Sie mit dem Film in der aktuellen Diskussion um Rassismus und Gewalt gegen Schwarze in den USA etwas bewirken können?

Mein Anliegen war es, mit der Geschichte, die erzählt wird, das Unvorstellbare menschlich zu machen und dadurch Empathie zu erzeugen. Denn in dem Moment, wo es gelingt, ein bestimmtes Einfühlungsvermögen zu entwickeln, kann man … ich weiß nicht, verändern ist in dem Zusammenhang ein sehr starkes Wort, vielleicht zu stark, aber man kann es hoffen. Man kann immer optimistisch sein. Und es gibt kleine Lichtblicke: Neulich erst wurde der Film auf dem Capitol Hill gezeigt. Veranstaltet wurde die Vorführung von dem US-Kongressabgeordneten John Conyers Jr., der einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des „racial profiling“, der Fahndung nach rassischen Kriterien erarbeitet hat. So ein Gesetz durchzubringen, wäre ein echter Durchbruch, und wenn der Film etwas dazu beitragen kann, dass darüber diskutiert wird, dann ist das ein Schritt in die richtige Richtung.

Seit der Film in Amerika gestartet ist, kommt von allen Seiten die Frage auf, ob und inwieweit eine weiße Regisseurin schwarze Geschichte verfilmen darf. Wie reagieren Sie auf solche Vorwürfe?

Es ist wichtig, darüber zu reden, sehr wichtig sogar. Was die vorherrschende rassistische Ungerechtigkeit und den Rassismus im Allgemeinen betrifft, das sind Dinge, die uns alle etwas angehen, von denen wir alle tief erschüttert sind, quer durch die verschiedenen Kulturen. Und ich denke, es ist an jedem selbst, etwas dagegen zu tun. Es gibt ein großartiges Zitat von Heather Heyer, der jungen Frau, die in Charlottesville getötet wurde, die in ihrem letzten Facebook-Eintrag schrieb: „Wer sich nicht empört, schaut einfach nicht hin.“ Punkt. Und das gilt für alle und jeden von uns. Was damals im Algiers-Motel geschehen ist, hat mich bewegt. Bin ich deswegen davon überzeugt, dass ich die richtige Person war, einen Film darüber zu machen? Nein. Aber ich hatte die Möglichkeit dazu, eine Geschichte auf die Leinwand zu bringen, die seit fünfzig Jahren nicht mehr erzählt worden war, und deshalb habe ich mich dazu entschieden, sie zu erzählen, und zwar so gut und mit so viel Respekt wie möglich.

Hatten Sie Unterstützung bei der Recherche?

Ich hatte zwei hervorragende Experten an meiner Seite: Michael Eric Dyson, der in Georgetown unterrichtet, und Henry Louis Gates, Jr. von der Harvard Universität. Beide haben zahlreiche Bücher über afroamerikanische Geschichte veröffentlicht und sie haben mir während meiner Arbeit an dem Film immens dabei geholfen, die Zusammenhänge zu verstehen, die schließlich zu den Ereignissen geführt haben, um die es in Detroit geht.

Würden Sie sagen, dass die Sequenz im Motel zu den schwierigsten zählt, die Sie jemals gefilmt haben?

Ja, definitiv. Hundert Prozent. Für mich, für die Schauspieler, für die Crew, für alle. Allerdings man muss dazu sagen, dass sich im Laufe des Drehs dadurch auch eine der engsten Kameradschaften zwischen Cast und Crew entwickelt hat, die ich jemals am Set miterlebt habe. Diese Verbundenheit zwischen allen Beteiligten war schon erstaunlich. Jeder wusste, worum es geht, dass dies eine Geschichte ist, die raus muss, und der Gedanke allein brachte alle zusammen. Zwar war auf emotionaler Ebene ein enormer Preis damit verbunden, den wir alle zahlen mussten, aber John Boyega hat vor kurzem, glaube ich, auch darüber gesprochen, wie sehr der Vorsatz und die Notwendigkeit letztendlich alles andere in den Schatten stellte, und so war’s auch.

Wie lange dauerte der Dreh im Motel allein? 

Drei Wochen.

Was tun Sie, um nach so einer Anstrengung wieder runterzukommen?

Sehr wenig. Ich checke mein Drehprotokoll, um zu schauen, was danach kommt, um mich auf den nächsten Tag vorzubereiten.

Juli Hysell war eine der zwei achtzehnjährigen Studentinnen, die damals mit festgehalten wurden. Inwieweit hat die Tatsache, dass sie jetzt auch beim Dreh dabei war, die Dynamik am Set verändert?

Es war erstaunlich, sie war jeden Tag da. Es war extrem wichtig, denn wir alle fühlten gleichermaßen, wie groß die Verantwortung war, die da in unseren Händen lag, ihre Gefühle und Emotionen wahrheitsgemäß wiederzugeben, und die Ereignisse der Nacht ihren Schildrungen entsprechend authentisch zu vermitteln. Sie ist eine bewundernswerte Frau, so stark, so mutig, so beeindruckend.

Was denken Sie waren die schwersten Momente für Juli, als es darum ging, die qualvollen Stunden von damals noch einmal mitzuerleben? 

Nicht dass ich das hätte beurteilen können, aber die Gerichtsverhandlung und der Freispruch waren wohl am schlimmsten für sie, zumindest hat sie mir das so gesagt.

Sie haben den Film noch während der Obama-Präsidentschaft gedreht. Haben Sie sich jemals vorstellen können, dass Sie es nun mit einem Präsidenten zu tun haben, der Rechtsextremisten verteidigt?

Niemals. Es ist ein Hohn, dass er die Rechtextremisten nicht verurteilt. Das ist peinlich und unverantwortlich. Ich sehe meinen Film als eine Art Anklage gegen jeden, der diese  Denkweise auch nur annähernd teilt. Ich muss gestehen, dass ich, als Obama zum Präsidenten gewählt wurde, tatsächlich geglaubt habe, wir würden in eine neue Ära eintreten, eine Post-Rassen-Welt. Ich habe ernsthaft gedacht, wir wären so weit. Stattdessen bewegen wir uns jetzt in einem Tempo rückwärts, mit dem ich nicht gerechnet habe, dass ich mir niemals hätte vorstellen können.

Und trotzdem bleiben Sie überzeugt davon, dass man mit Kunst etwas verändern kann?

Es liegt an jedem einzelnen von uns, etwas zu tun. Egal was. Und auch die Entscheidung, was richtig und was falsch ist, bleibt jedem selbst überlassen. Mach, was du kannst, dort, wo du bist, mit dem, was du hast. Solange wir alle versuchen, die Hand auszustrecken, können wir damit vielleicht ein Momentum schaffen, das die Kraft hat, die Katastrophe noch einmal abzuwenden und das Ruder wieder herumzureißen. Davon bin ich überzeugt.