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Serien - Babylon Europa. Ein Dossier

Wellenbrecher

| Roman Scheiber |
Endlich tut sich was in Sachen europäischer Serienproduktion. Ein kursorischer Überblick.

Es beginnt plastisch und endet atemraubend: das erste Achtel der episch angelegten Erzählung Babylon Berlin. Ein spektakulärer Bildsalat aus der Perspektive ihrer morphiumsüchtigen Hauptfigur eröffnet die Serie. Unter Hypnose erlebt der Polizist Gereon Rath die Vorblende einer Art Nahtod-Erfahrung, und diese Hypnose ist dazu angetan, sich umstandslos auf das Publikum zu übertragen. Eine dekadente Party-Massenszene im legendären Halbwelt-Club Moka Efti wiederum, gegengeschnitten mit einem Anschlag des russischen Geheimdienstes im Keller einer trotzkistischen Widerstandsgruppe, beendet die zweite Episode.

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Großes Kino im Fernsehturm, man sieht dieser Serie ihre babylonische Ambition an. Nach fünf Jahren Vor- und einem halben Jahr Dreharbeiten im Studio Berlin Babelsberg und an  300 weiteren Drehorten, wo rund 5000 Komparsen beschäftigt wurden, schickt der Pay-TV- und Streaming-Anbieter Sky nun die ersten 16 Folgen der bislang 38 Millionen Euro schweren Produktion Babylon Berlin auf die Bildschirme (in Kooperation mit X-Filme, Beta Film und der ARD, wo die Serie 2018 laufen wird). Eine dritte Staffel ist in Vorbereitung, der Verkauf in andere europäische Länder und in die USA läuft. Das verantwortliche Kreativtrio heißt Tom Tykwer (ein international bekannter Name), Henk Handloegten und Achim von Borries. Sucht man nach ästhetischen Vorbildern, wird man wohl am ehesten in der ähnlich beige-braun eingestaubten HBO-Crime-Serie Boardwalk Empire, die im Atlantic City der Roaring Twenties spielt, fündig (siehe „ray“ 03/12).

Man schreibt das Jahr 1929, ein Sittengemälde zwischen Opulenz und Prekariat, zwischen Versehrung und orgiastischem Rausch faltet sich als Leporello der Nazidämmerung vor einem auf. Babylon Berlin beschäftigt sich mit einer bislang unterbelichteten, jedoch entscheidenden Phase der europäischen Geschichte und schlägt dabei durchaus Gedankenbrücken in die Gegenwart: etwa die Neigung vieler Menschen, angesichts von Krisen ihren Status als demokratischer Souverän aufzugeben. Diese Brücke kann nicht schaden in einer Zeit des dauernden Durcheinanders in Europa: Angst vor IS-Terror, Brexit, wirtschaftliches Zurückfallen mediterraner und Zurückbleiben östlicher Länder, der Kontinent von allen Seiten, innen und außen in der Mangel autoritärer Figuren vom Schlage Trump, Putin, Orban, Erdogan. Als Gegengift braucht Europa eine avancierte Erzählkultur, Romane wie Robert Menasses mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnete Bürokratie-Groteske „Die Hauptstadt“ ebenso wie eine vernünftige Serienproduktion, die kleinkariertem Nationaldenken und diktatorischen Anflügen ein gemeinschaftsbildendes Gefühl entgegensetzen kann. Europäische Serien nämlich, die der Zuseherin und dem Zuseher historische Zusammenhänge sichtbar machen, kulturell benachbarte Mythen näher bringen oder nah an der wahrnehmbaren Realität gesponnene Geschichten, die glaubhafte Charaktere in nachvollziehbaren oder gar in solchen Welten zeigen, in denen man die eigene gespiegelt erkennt.

Deutungsinstrument

Vor etwa zehn, fünfzehn Jahren beschränkte sich, was man an europäischer Serienproduktion ins damals noch weitgehend lineare Fernsehen oder auf DVD geliefert bekam, im Wesentlichen auf harmlose Vorabend-Soaps und Krimiware von der Stange. Sympathische Kommissarinnen und Kommissare ermittelten nach erprobten Erfolgsmustern, gesellschaftlich relevante Stoffe fanden sich bestenfalls im „Tatort“ oder anderen Episodenserien, episodenübergreifendes Erzählen war die Ausnahme, abgeschlossene Fälle die Regel, drastische Sex- und Gewaltszenen tabu. Das hatte vielerlei Gründe: Soziopolitisch gewagtes Erzählen in Serie, wie es der US-amerikanische Pionier-Bezahlsender HBO mit Oz oder The Wire oder mit den klassisch gewordenen Sopranos zustande gekriegt hatte, konnte man sich auf den kleineren europäischen Märkten und ohne den langen Atem durchgängiger Abofernsehfinanzierung nicht leisten. Für Autorenserien gab ohnehin zu wenige Schreiber, die in dieser Art des Erzählens geübt waren, es gab insgesamt zu wenig Geld, aber auch – das konnte man nicht zuletzt an den zumeist konservativen US-Serienzukäufen der öffentlich-rechtlichen Sender ablesen – zu wenig Mut. Anstatt auf den US-Fortsetzungsserienboom mit Eigenproduktionen zu reagieren, wie ein Stück weiter im Norden, verließen sich mitteleuropäische Sender auf das vergleichsweise billig produzierbare (und dementsprechend billige) Serien-Phänomen Casting-Fernsehen. Erst durch den Erfolg der bahnbrechenden dänischen Krimiserie Forbrydelsen (Kommissarin Lund, 2007–2012) sickerte auch bei anderen europäischen Sendern und Serienproduzenten allmählich die Erkenntnis durch, dass eine horizontale Erzählweise (also Fortsetzungen über viele Folgen hinweg) sich nicht zwangsläufig auf geglückte Einzelfälle beschränken muss. Immerhin spricht einiges dafür, dass serielles Geschichtenerzählen in Fernsehbildern zum entscheidenden Deutungsinstrument für eine soziologisch kompliziert gewordene westliche Gegenwart avanciert ist. Will man nicht einer ganzen Generation von gebildeten jungen Europäern dabei zusehen, sich ausschließlich von smarten US-Produktionen beeinflusst zu entwickeln, sollte man Autorenserienproduktion auch in Europa konsequent vorantreiben.

Erfunden

Wie das kleine Dänemark und andere nordische Länder das mit dem „erwachsenen“ Erzählen gemacht haben (u.a. mit der anspruchsvollen Politikserie Borgen und dem Krimiknüller Die Brücke, welcher wie auch Kommissarin Lund ein US-Remake erfuhr), lässt sich in einem Schwerpunkt in „ray“ 05/15 nachlesen. Nach Großbritannien, bis dahin der einzig nennenswerte Wellenbrecher der US-Serienflut, und eben Skandinavien war Frankreich dran (u.a. mit der bravourösen „Zombie“-Serie Les Revenants, der eher misslungenen Netflix-Politik-Serie Marseille oder dem unterhaltsamen Epochenstück Versailles, siehe S. 76) und auch Italien folgte dem Trend (exzellent oder mindestens originell: 1992, die surreale Papst-goes-Popstar-Phantasie The Young Pope aus dem Hause HBO/Sky Italia oder jüngst das römische Pendant zur Serie Gomorrha, nämlich das vom gleichnamigen Film im Netflix-Auftrag zur zehnteiligen Serie weiterentwickelte Mafia-Opus Suburra). Nun ist das Prinzip, Talente und Ausbildung zu fördern, renommierte Kinomenschen zum Horizontalfernsehen zu holen, viel Geld in die Hand zu nehmen und dafür serielle Qualität zu bekommen, mit Verspätung auch in der Mitte Europas angekommen – katalysiert natürlich von den Versuchen der großen Streaminganbieter Netflix und Amazon, mit lokalen Produktionen noch stärker auf europäischen Märkten Fuß zu fassen.

Seit drei Jahren mischt der globale Medienkonzern Amazon in der Branche mit und nutzt seine Position als Internethändler und finanzkräftiger Börsenriese gewissermaßen aus dem Stand. Im Rennen um die erste deutsche Original-Produktion hat man sogar Netflix um ein paar Monate in die Schranken gewiesen. Doch der Hochglanz-Sechsteiler You Are Wanted, in dem Mathias Schweighöfer sich als Hotelmanager verzweifelt gegen Cyberattacken zur Wehr setzt, bleibt im Epigonalen hängen. So gut wie alles hier hat man schon einmal ausgegorener gesehen, in Mr. Robot und anderswo. Netflix wird ab Dezember mit der Mystery-Serie Dark nachlegen, und diese Konkurrenz belebt offensichtlich auch das Platzhirsch-Geschäft: Die sechsteilige TNT-Miniserie 4 Blocks unter der Ägide von Wiedemann & Berg und in der Regie des Österreichers Marvin Kren stellt fetzig eine libanesisch-Neuköllner Variante des beliebten Gangsterfamiliendrama-Genres dar; die dänisch-deutsche ZDF-neo-Koproduktion Gidseltagningen/Countdown Kopenhagen verknüpft Terror, hier als Geiselnahme in einer U-Bahn-Baustelle, clever mit der Rolle der Live-Medien; und in Hans Christian Schmids grandiosem Achtteiler Das Verschwinden sucht eine Mutter detektivisch nach ihrer abgängigen Tochter im bayrisch-tschechischen Grenzgebiet (alle fünf letztgenannten Titel gibt es auch auf DVD/Blu-ray, 4 Blocks ab Dezember).

Verschwundene

Die Öffentlichkeit hat ein obsessives Verhältnis zu Fällen abgängiger und entführter Kinder. 1.150.000 Einträge kennt Google zum Fall der seit zehn Jahren vermissten Maddie McCann, und wer erinnert sich nicht an den globalen Medien-Hype nach der Rückkehr von Natascha Kampusch aus der Tortur ihrer achteinhalbjährigen Gefangenschaft? Kein Wunder also, dass gleich mehrere Serien der jüngeren Vergangenheit sich mit dieser Grundkonstellation beschäftigen, von der US-amerikanischen Serie Stranger Things zu ihrem unfreiwilligen deutschen „Pendant“ Dark, von der erwähnten Serie Das Verschwinden bis zur BBC-Produktion The Missing, deren achtteilige zweite Staffel noch interessanter ist als die erste: Nach elf Jahren kehrt eine entführte junge Frau ausgezehrt zurück zu ihren Eltern, die als britische Militärs in Eckhausen bei Hannover stationiert sind, wohingegen ein anderes Mädchen weiter vermisst bleibt. Eindrückliches Schauspiel (David Morrissey, Abigail Hardingham, Laura Fraser, Veteran Tchéky Karyo als Ermittler) und drei kunstvoll verschachtelte Zeitebenen verleihen diesem Fall Fesselungsvermögen.

Apropos britische Serien: Großbritannien bleibt auch nach Downton Abbey an vorderster Front, zuletzt mit Netflix‘ programmiertem Renner aus der Feder von Peter Morgan, The Crown. Claire Foy gibt darin zum Dahinschmelzen die junge Elisabeth II, John Lithgow porträtiert Winston Churchill zum Schenkelklopfen, und alles zusammen ist nicht nur für die Royal-Klatschsüchtigen Europas, sondern auch für Antimonarchisten erhellend und packend (Season 1 mittlerweile auf Disc).

Nicht, dass es bei dieser kursorischen Aufzählung um Vollständigkeit ginge, aber zwei Aufsehen erregende britische Produktionen seien noch erwähnt. Tom Hardy überzeugt in Taboo als sinistrer Afrika-Rückkehrer in ein düsteres London des Jahres 1814, um den Tod seines Vaters zu rächen (und hat selbst an seiner Rolle mitgeschrieben, BBC-One bei Amazon Prime Video). Schließlich nimmt uns Sam Riley (der aus dem finsteren Tal) als Noir-Ermittler in SS-GB auf einen gefährlichen Doppelagenten-Trip in eine „alternate history“ Englands mit, in der die Deutschen den Krieg gewonnen (und der Deutsche Philipp Kadelbach das Match um die Regie). Kate Bosworth als NYT-Korrespondentin, der als Nazi ungeheuer treffende Lars Eidinger und der unvergleichliche Rainer Bock als SS-Gruppenführer stechen aus dem übrigen Cast hervor. Ähnlich wie im Fall der auf Philip K. Dick basierenden US-Alternativgeschichtsschreibung The Man in the High Castle geht es hier um das Verhältnis von Fakten und Kontrafakten, vor allem aber von Treue und Verrat. SS-GB ist Kolportage im besten Sinn, und die Serie hat etwas sehr Heutiges, wenn man an Wahlkampfleiter denkt, deren eine Hand nicht wissen will, wie schmutzig die andere ist. Oder an Präsidenten, die von alternativen Wahrheiten faseln.