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Mosaic

The Smartphone Experience

| Roman Scheiber |
Die HBO-Krimiserie „Mosaic“ von Ed Solomon und Steven Soderbergh war (in den USA) auch als interaktive App verfügbar. Was bedeutet das für das Verhältnis Kreation und Rezeption?

1853 Stonewater Road, Summit, UT 84099. Die Adresse der Kinderbuchautorin Olivia Lake (Sharon Stone), bis zu ihrem gewaltsamen Tod in einer Silvesternacht. Den Erfolg ihres Bestsellers „Whose Woods These Are“ hatte Olivia genutzt, um mit der Unterstützung hiesiger Kunstsammler-Freunde eine Kinderkunststiftung namens „Mosaic“ zu gründen und zu vermarkten. Sie war der Star hier in der Gegend gewesen, nicht zuletzt auch als Cougar bekannt, Empfänge in ihrem Luxusanwesen in Summit hatten als das gesellschaftlich Höchste gegolten, was der (fiktive, in Park City gedrehte) Nobel-Skiort in Utah zu bieten hatte. Nach Olivias Tod wird das Anwesen auf dem Immobilienmarkt für rund 8,4 Millionen Dollar angeboten. Vier Jahre nach dem Verbrechen – in der Gegenwartsebene dieser Erzählung – werden Teile von Olivias Leiche gefunden, gerät der Fall demnach wieder in den Fokus und haben sich mehrere Verdächtige herauskristallisiert. Einer dieser Verdächtigen, Olivias letzter Lebensgefährte Eric (Frederick Weller) nämlich, sitzt zu diesem Zeitpunkt längst verurteilt in Haft, er hat sich wegen schlechten Leumunds und erdrückender Indizienlage auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft geeinigt.

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„Zu diesem Zeitpunkt“, was heißt das nun in der HBO-Miniserie Mosaic? Verfolgt man die sechs Teile des von Ed Solomon geschriebenen und von Steven Soderbergh inszenierten Provinzkrimis so, wie man eine Serie für gewöhnlich verfolgt, nämlich linear, dann heißt es: im Verlauf der finalen Episode. Der Zeitpunkt also, als Erics Schwester Petra (Jennifer Ferrin), eine Kunstrestauratorin, gemeinsam mit dem damals zuständigen Polizisten Nate (Devin Ratray) bereits eine ihren Bruder entlastende Entdeckung nach der anderen gemacht hat. Doch es wäre nicht Soderbergh, gäbe es nicht ein ganz besonderes Gimmick an diesem Fall. Denn auf welche Weise man das Mosaik montiert haben möchte, konnte man (als HBO-Kunde in den USA) via iOS- oder Android-App bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden – anhand einer „Story Map“, auf der diverse Verzweigungen der Geschichte verzeichnet sind. Extra für diese modulare Vertriebsform ist Mosaic mit insgesamt rund siebeneinhalb Stunden Material (im Unterschied zur rund fünfstündigen Schnittfassung Soderberghs alias Mary Ann Bernard für HBO) so konzipiert, dass man an vorgegebenen Wegmarken bestimmen kann, an der Seite welcher Figur man tiefer in die Geschichte eintauchen will. Ist der gewählte Strang auserzählt, wird man zur Gabelung zurückgeschickt. So kann der User in der Geschichte zurückspringen, aber nicht nach vorn. Das bedeutet u.a., Szenen immer wieder neu aus anderer Perspektive sehen zu können bzw. zu müssen, um sich Mosaic – mit fortlaufend geringerem Ertrag – selbst zu erschließen. „I prefer that to be the artist’s job“, merkt der „New York Times“-Rezensent James Poniewozik zur Mosaic-App flapsig an, „I felt, at times, as if Mr. Soderbergh had dumped a bunch of reels of film on my desk and said, Here. You edit it.“ Und zu weiteren Features der App, nämlich zwischendurch aufpoppenden „discoveries“ (PDFs, Videoclips, Sprachnachrichten, Zeitungsartikel, ein früherer Dialog etc.), zu deren Studium man die jeweilige Szene anhalten muss, meint der Rezensent: „If you’ve always thought TV would be better with footnotes, I suppose this is for you.“

Full Bubble Side effects

Wieder einmal sucht Soderbergh sich mit einem Projekt künstlerisch neu zu erfinden oder versucht sich mindestens an einer ästhetischen, erzählökonomischen oder Vertriebs-Innovation. Seit seinem Cannes-Sensationssieger Sex, Lies & Videotape (1989) und auch nach dem Oscar für das wuchtige Drogen-Episodendrama Traffic (2000) pendelt das in Atlanta geborene Multitalent beständig zwischen Big-Budget-Studioproduktion und freierer, experimenteller Form hin und her. Das trug ihm den Ruf eines smarten Chamäleon-Filmemachers ein. Im Gefolge von Ocean’s Eleven (2001) z.B. präsentierte er das amateurhafte Hollywood-Spott-Essayvideo Full Frontal und erfand die semi-improvisierte Lobbyisten-Satireserie K-Street; im Jahr nach Ocean‘s Twelve (2004) kam sein mit Laien besetztes und ohne Drehbuch improvisiertes Kleinstadtdrama Bubble nahezu zeitgleich im Kino, im Fernsehen und auf DVD heraus. Ständig auf der Suche nach neuen Zugängen, arbeitete der bekennende Workaholic Soderbergh sich an Kameratechniken und flotten Produktionsrhythmen ab oder holte sich Schauspielerinnen aus anderen Fachrichtungen. Das wild verschachtelte Porträt eines „High End Call Girls“ z.B. besetzte er provokant mit Pornodarstellerin Sasha Grey in der Hauptrolle (The Girlfriend Experience, 2009 – darauf basierend entstand 2015 in der Serienschmiede Starz die gleichnamige aber konventionellere Anthologie-Serie, mit Soderbergh als ausführendem Produzenten). Und im Fall des Pulpvideo-Actionthrillers Haywire (rigoros abgefrühstückt von Daniel Kothenschulte in „ray“ 03/12) lieferte Soderbergh, wie so oft auch für Kamera und Schnitt verantwortlich, nichts anderes als ein Vehikel für die Mixed-Martial-Arts-Kämpferin Gina Carano ab. Im Jahr darauf wiederum überzeugte er mit einem fintenreichen, wenngleich wieder eher konventionellen Pharma-Psychothriller (Side Effects, „ray“ 04/13).

So sehr Soderbergh es zuweilen übertreibt mit seinem Markenzeichen, der „cool Cleverness“, so sehr man auf manches seiner Experimente auch dankend verzichten hätte können, so sehr fehlt allerdings der dritte Teil der von ihm inszenierten historischen Krankenhausserie The Knick (2014-2015), in der Clive Owen als kokainsüchtiger, selbstverständlich experimentierfreudiger Chirurg und André Holland als sein afroamerikanischer Kollege brillieren. Obwohl Soderbergh hier eine der konsequentesten und besten Regie-Leistungen seiner Karriere hinlegte, stellte der Sender Cinemax die zweidrittelfertige Produktion nach zwei Seasons bedauerlicher Weise ein (zu S1 „ray“ 11/14).

Höhlenmalerei und Hightech

Nun möchte Steven Soderbergh also an vorderster Front dabei sein, wenn das Zeitalter der Interaktion für die erste nahezu flächendeckend Smartphone-abhängige Generation von Serien-Aficionados eingeläutet wird. Doch ist das noch Kunst? Oder nur mehr Entertainment? Ist es vielleicht besser, stundenlang auf den Bildschirm seines mobilen Endgeräts zu starren, wenn man dabei immerhin seinen eigenen „Director‘s Cut“ gestalten darf, als ebendort z.B. durch Sankt Nimmerlein zu surfen? Soderbergh selbst nennt das Experiment „Höhlenmalerei einer neuen Technologie“. Nun, da gab es schon andere Höhlen: Spätestens seit Filme wie Levels von Videospielen angelegt sind (in seiner Verschmelzung von postmoderner Innovation und persönlicher Handschrift unerreicht: David Cronenbergs Meisterstück eXistenZ, 1999) bzw. Videospiele immer filmischere Züge annehmen (2012 z.B. gaben Ellen Page und Willem Dafoe via Motion-Capture-Verfahren die Akteure von „Beyond: Two Souls“, einer Art Hollywood-Blockbuster zum Mitmachen), war es kein großer Schritt mehr, beides zusammenzudenken. Der Interaktivitätsgrad serienbasierter Games wie z.B. „The Walking Dead“ ist denn auch deutlich höher als bei Mosaic. Und so sieht es der „NYT“-Rezensent, der das App-Experiment nicht grundsätzlich negativ beurteilt: „Mosaic is not a game, but the experience is gameified. The discoveries are like cut-scenes from an old-school CD-ROM, and navigating the narrative through the map felt a little like playing one of those hypnotic smartphone games that divides the play into chapters.“

Es mag eine innovative Idee sein, die Schöpfung eines Erzählwerks nach Aspekten des subjektiven Interesses in die einzelne Zuseherin, den einzelnen Zuseher hinein zu verlängern. Nach einigen Theorien entsteht der fertige Film ohnehin erst im Kopf des Zusehers, sieht jeder buchstäblich seinen eigenen Film. Was im Zuge des Baukastensystem-Erzählens verschoben wird, ist die mögliche Magie des Erzählens: Das Zauberhafte an audiovisuellen Erfahrungen ist ja nicht nur das Gezeigte (oder im Fall der App das gewählte Gezeigte), sondern oft das nicht Gezeigte, das Imaginäre, welches nur in der Phantasie des Zusehers entsteht (oder sich im Fall der App mit erst später aus anderer Perspektive Gesehenem kreuzen kann). Es wäre interessant, was etwa ein Gilles Deleuze über so eine App gedacht hätte, ob sie mit seinem Begriff der Kunstkonstruktion in Einklang zu bringen gewesen wäre – im Sinne einer originären Schöpfung, die Kunst von der Kopie trennt. Oder ob er die interaktive Version von Mosaic als täuschende Spielerei ohne nennenswerten Mehrwert abgetan hätte. Eines ist gewiss: Was vorher nicht programmiert ist, kann man auch nicht herunterladen. Was der Erzähler nicht als Bausatz vorsieht, kann man nicht selbst anstückeln. Außer eben in der eigenen Phantasie.

Janusgestalt

Was nun wirklich geschehen ist im zugebauten Atelier des schicken holzvertäfelten Anwesens von Olivia Lake an der Stonewater Road in Summit, Utah, das erfahren alle, die bis zum Ende zusehen. Die Fragen sind aber eher: Ist ein Charakter wie der Möchtegern-Künstler Joel (Garret Hedlund) – ein Love Interest Olivias, von Anfang an schwer verdächtig! – tiefenscharf genug gezeichnet, um einen auf diesen mehr oder weniger langen Umwegen bei der Stange zu halten? Wieso ändert der ehemalige Polizeichef und jetzige Privatwachmann Alan (Beau Bridges) plötzlich unmotiviert seine bisherige Meinung, der Fall sei abgeschlossen? Fasziniert einen Soderberghs kühle Lichtdramaturgie des verschneiten Winters in Utah, überzeugen seine an Stellen aufdringlich intimen (für den kleinen Bildschirm gedrehten) Close-ups der Dialoge und Verhöre, seine Methode des verzögerten Schnitts? Wirken die Ereignisse in der finalen Episode deshalb derart gestaucht, weil es sich mit den vorherigen falschen App-Fährten sonst nicht ausgegangen wäre?

Auf seine Janusgestalt als Filmwerk und als interaktives Vertriebsexperiment verweist Mosaic selbst, wenn man zwischendurch erfährt, dass man Olivias Bestseller „Whose Woods These Are“ auf zwei Arten lesen kann. Von vorn ist es die Geschichte eines Jägers, der seine Familie vor einem gefährlichen Bären schützt. Von hinten die eines Bären, der seine Jungen gegen einen gefährlichen Jäger verteidigt. Hierzulande kann man die App nicht nutzen, aber die Empfehlung wäre ohnehin: die Serie von vorn bis hinten auf einem vernünftig großen Schirm ansehen. Nicht also Mosaic sich selbst montieren, ist die Devise, sondern sich dem eigenen Mosaik des Soderbergh‘schen Gesamt-Oeuvres selbst ein Stück hinzufügen.