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The Woman Who Left / Ang babaeng humayo

The Woman Who Left

| Pamela Jahn |

Endlich im Kino: der Gewinner des Goldenen Löwen 2016

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Für die Filme von Lav Diaz gilt es, sich Zeit zu nehmen. Nicht nur, weil sie sich ohnehin mit einer ungenierten Selbstverständlichkeit den üblichen Laufzeiten kommerzieller Kinoproduktionen widersetzen. Sondern weil sie gerade übers Verweilen das Eintauchen in eine fremde, bisweilen surreal anmutende Welt ermöglichen, das die Sichtung zu einem ganz besonderen Erlebnis für jeden macht, der bereit ist, sich auf ein vier, fünf oder auch gerne einmal acht Stunden andauerndes Spektakel einzulassen.

The Woman Who Left gehört mit „nur“ 226 Spielminuten demnach eher zu den Mittelstreckenfilmen in Diaz’ außerordentlichem Repertoire, was ihn jedoch nicht unbedingt greifbarer macht. Erzählt wird darin die Geschichte von Horacia (Charo Santos-Concio), einer ehemaligen Lehrerin, die nach dreißig Jahren aus dem Arbeitslager entlassen wird, in dem sie aufgrund einer falschen Mordanklage eingesperrt war. Als sie erfährt, dass ihr Mann mittlerweile verstorben und ihre Kinder versorgt beziehungsweise
verschollen sind, begibt sich die ehemalige Landschullehrerin in verdeckter Mission auf die Suche nach dem wahren Schuldigen des Verbrechens, um sich schließlich an ihm zu rächen. Bis es so weit ist, bleibt dem philippinischen Auteur jedoch auch hier erneut genügend Zeit, sich regelmäßig in kleinen Episoden des Alltags zu verirren, die der Handlung ihren gesellschaftlichen, sozialkritischen Subkontext geben. Denn darin besteht ein weiteres ausschlaggebendes Merkmal des Kinos von Lav Diaz: Ganz gleich in welche narrativen, genrevermischenden oder stilistischen Gefilde es den Regisseur verschlagen mag, seine Arbeiten sind stets von einer intensiven Beschäftigung mit der gewaltreichen Geschichte seines Landes sowie einem kontinuierlichen Befragen der großen moralischen Konflikte um Schuld, Liebe, Glauben, Vergebung und Vergeltung geprägt.

Orientiert hat sich Lav Diaz an Leo Tolstois Kurzgeschichte „Ein Verbannter“, die in einem sibirischen Gefangenlager um die Jahrhundertwende spielt. Doch erst durch die subtilen Parallelen zwischen seiner Hauptdarstellerin Charo Santos-Concio und der Figur, die sie verkörpert, gewinnt der Film seine eigentliche dramatische Wucht. In ihren Worten, den scheuen Blicken und Gesten zeigt sich das ganze Ausmaß eines Schicksals, das von Freiheitsentzug und der Sehnsucht nach einem anderen Leben im falschen gekennzeichnet ist. Trotz der schwarz-weißen Schattenwelten, die Diaz in präzise geplanten Einstellungen konzipiert, ist The Woman Who Left dennoch kein düsterer Film, sondern einer, der den Verstand erhellt, und dem Herzen einen sanften, aber lang anhaltenden Stoß versetzt.

 

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