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The Deuce - Serie

Serie | The Deuce

American Dream Team

| Roman Scheiber |

Nicht bloß für Voyeure: Der TV-Achtteiler „The Deuce“ von David Simon und George Pelecanos erzählt stimmig und in fabelhafter Besetzung von den ersten Blüten einer späteren Milliardenindustrie. Jetzt auf Disc.

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So hat man New York seit Taxi Driver nicht mehr gesehen. Leuchtreklamen, Porno- und Premierenkinos, kantige Karossen auf verdreckten Straßen. Am Bürgersteig jener „Abschaum“, der Travis Bickle einst rot sehen ließ: Hippies und Heruntergekommene aller Ethnien, Schwule, glamourös gekleidete, afroamerikanische Zuhälter und Prostituierte in Pelzjäckchen und mit auftoupierten Haaren im Seventies-Style. Die Ästhetik von The Deuce orientiert sich, das ist schon in der fetzigen Titelsequenz und zu Beginn der Pilotfolge sichtbar, nicht bloß an Mode- und Lifestyle-Magazinen der beginnenden siebziger Jahre, sondern an den vielen Sozial-Fotoreportagen, die in dieser Zeit entstanden sind. Angesiedelt rund um Times Square und 42nd Street (mit Augenmaß digital aufgebürstet, gedreht aber auch in hinteren Winkeln der Metropole, die noch eher an die damalige Räudigkeit erinnern) wird ein grandioses, sich im Verlauf der Erzählung virtuos verschiebendes Figuren-Ensemble in Stellung gebracht, das ein bestimmtes Milieu an einem konkreten Ort und eine Ära des Umbruchs lebendig werden lässt.

Die Erstausstrahlung von The Deuce auf dem Pay-TV-Sender HBO bzw. im deutschsprachigen Raum auf Sky fiel mit dem Beginn der immer noch köchelnden MeToo-Debatte zusammen. Was die Serie erzählt, hat indirekt damit zu tun, denn sie erzählt von der Keimzelle einer Industrie, die später Milliarden umgesetzt hat, und von einem gesellschaftlichen Phänomen, das heute weite Teile zumindest der westlichen Gesellschaft durchdringt: der Porno-Branche. Ein heikles und häufig tabuisiertes Thema also, dessen sich David Simon und George Pelecanos da angenommen haben. Doch wer das bisherige Schaffen der beiden kennt – genannt seien beispielhaft die epochale Crime-Serie The Wire (2002–2008) und die Post-Hurricane-Katrina-Studie Treme (2010–2013) –, weiß, dass sie keinerlei Klischees bedienen und daher genau die richtigen sind für einen multi-ethnischen Stoff, welcher den Untersten in der jeweiligen Hierarchie die gleiche Aufmerksamkeit wie den Oberen zukommen lässt. Ein zutiefst anti-elitärer Serienschöpfer wie Simon und ein ebenso demokratisch gesinnter, feiner Geschichtenerzähler wie Pelecanos bedürfen freilich keiner feministischen Beglaubigung ihres Wirkens. Sie setzen Frauen als Produzentinnen und Regisseurinnen einfach deshalb ein, weil verdiente Fachkräfte wie Michelle Maclaren (Breaking Bad, Game of Thrones) und langjährige Mitstreiterinnen wie Nina Kostroff-Noble (The Wire, Treme, Show Me a Hero, Generation Kill) oder vielversprechende neue Autorinnen wie Megan Abbott oder Lisa Lutz Entscheidendes zum Gesamtergebnis beitragen. Und dieses Ergebnis, jedenfalls der erste von geplanten drei Achtteilern, kann sich sehen lassen.

Maggie Wonderful

Drei Schauspieler in vier Rollen stechen aus dem insgesamt ausgezeichnet besetzten Ensemble heraus. Vielarbeiter James Franco (der es im Alter von 40 bereits auf 150 Schauspieler-Credits bringt, hier auch koproduzierte und zwei Mal Regie führte) spielt ein, sieht man von Schnauzbart, Zigaretten- und Alkoholkonsum ab, ungleiches Zwillingsbruderpaar. Der verheiratete, wenngleich von seiner Frau entfremdete Vincent Martino will eigentlich nur eine Bar betreiben und mit der selbstbewussten Studentin Abby (Margarita Levieva, ein Rätsel, warum noch kein Star) zusammen sein – „I always knew I need a woman smarter than me. Otherwise I would get bored“: ein Satz aus einer der ehrlichsten und schönst inszenierten Liebeserklärungs-Szenen der jüngeren Filmgeschichte. Vinnies Bruder Frankie wiederum, ein kontaktfreudiger Draufgänger, lässt sich mit dem örtlichen Mafia-Capo (Michael Rispoli) ein, der groß in das damals aufkommende Geschäft mit „massage parlors“ aka Bordellen einsteigt.

Während nun also die meisten jungen Frauen von der Straße ins Separée wandern, nur um sich trotz Verzichts auf ihre Zuhälter nach dem Regen in der Traufe wiederzufinden, geht Candy (wundervoll verkörpert und interpretiert von Maggie Gyllenhaal) einen anderen Weg. Schon bislang war sie, die einen recht wohlerzogenen und gebildeten Eindruck macht, eigenwilliger und vor allem risikofreudiger als ihre Kolleginnen, verzichtete sie doch als einzige auf der Straße auf einen Zuhälter (dagegen New-York-Neuzugang Lori, gespielt von Emily Meade: „I need pimping, otherwise I get lazy“). Nachdem Candy zufällig als Aushilfe in einen Pornodreh gerät, will sie ihre Chance auf einen ökonomischen Aufstieg ergreifen. Aus ihrer Perspektive, und das ist ein sehr schöner Dreh von The Deuce, erleben die Zuseherinnen und Zuseher nun den Einstieg in eine recht improvisiert anmutende Frühform der Hardcore-Produktion. Candys Ehrgeiz und ihre Professionalisierung münden u.a. in eine köstliche Sequenz, in der sie ihren Boss Harvey (einer von vielen Casting-Glücksfällen: David Krumholtz) vertritt und erstmals selbst Regieanweisungen bei einer Porno-Produktion gibt. Welch verquere Facetten die Verwirklichung des oft bemühten „American Dream“ haben kann, nicht zuletzt das zu zeigen, macht The Deuce zu einem sehenswerten Stück Americana.

Grenzverwischungen

Nichts fühlt sich forciert an hier, und obwohl man via wahrhaftigem Dialog und scharfer Figurenprofile viel erfährt über das Milieu, fühlt es sich auch nicht über-edukativ an. Die bruchlose Verbindung von in Beige-braun getauchter, nahezu nostalgischer Atmosphäre und schonungsloser Sozialkritik macht The Deuce zu einer großen Serie – und zu einem wunderbaren Gegenstück zu Paul Thomas Andersons Boogie Nights, welcher rund zehn Jahre später im „first golden age of porn“ spielt und meisterhaft die erste Verwerfungsphase vor dem konservativen Backlash der Achtziger andeutet.

Explizite Szenen gibt es zuhauf in The Deuce, doch verweigern sich alle konsequent reinem Selbstzweck. Den Schlüssellochblick, der dem Sujet eigen ist, nutzt das Team um David Simon für kluge, überraschende, mitunter witzige, aber auch gewaltvolle und teils berührende Szenen. Der schockierende Übergriff an einer farbigen Prostituierten stellt sich z.B. als Rollenspiel heraus; an anderer Stelle, wenn Candy mit einem gerade mal volljährigen Geburtstagsknaben verkehrt, wird der Aspekt der Grenzverwischung zwischen geschäftlicher Transaktion und menschlicher Interaktion zärtlich auf den Punkt gebracht. In einem anderen interessanten Grenzbereich spielt sich die zunächst rein berufliche Beziehung zwischen zwei afroamerikanischen Figuren ab, der investigativen Journalistin Sandra (Natalie Paul) und dem offenbar einzigen nicht-korrupten Straßen-Cop Chris (Lawrence Gilliard Jr.).

Schon ziemlich früh läuft die erste Season von The Deuce auf die Premiere eines berühmt-berüchtigten Films hinaus. Nie genannt wird der Name dieses Films, der angeblich von der US-amerikanischen Cosa Nostra finanziert und – was das Verhältnis von Kosten und Einnahmen betrifft – einer der profitabelsten aller Zeiten werden sollte. Jedenfalls riss er alle bis dahin geltenden Anstandsregeln nieder. Nach seiner Premiere im World Theater an der West 49th Street, in dessen Nachbarschaft die ums Überleben kämpfenden Kinos bereits reihenweise auf „adult film“ umgestiegen waren, schrieb er durch seinen anhaltenden Erfolg Sozialgeschichte. Spoiler: In der künstlerisch zweifellos untermittelprächtigen Produktion geht es um eine Frau, deren zentrales Geschlechtsorgan auf groteske Weise disloziert ist.