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Unsane

Bei Anruf Paranoia

| Pamela Jahn |
Pause war gestern: Steven Soderbergh hat heimlich mit Claire Foy einen Psychothriller gedreht – mit dem iPhone.

Nein, Steven Soderbergh ist noch längst nicht fertig mit dem Kino. Kaum meldete er sich nach knapp vierjähriger Pause im vergangenen Herbst paukenschlagartig mit Logan Lucky auf der Leinwand zurück, kommt nun gleich sein nächstes Werk in die Filmtheater. Dabei könnten die Welten, die zwischen beiden Arbeiten liegen, größer kaum sein – und das nicht nur aus inhaltlicher Sicht. Denn Unsane ist in seinem Wesen das, was man im Jargon des Regisseurs einen Quickie nennt, eine aus der Hüfte geschossene und mit minimalem Budget entstandene schnelle Versuchsanordnung zwischen den größeren, planungsbedürftigen Studioproduktionen, die Soderbergh im Laufe seiner Karriere immer wieder Nerven gekostet haben. Filme wie Bubble (2005) und The Girlfriend Experience (2009) sind Vorreiter jener Kategorie, doch während bei diesen Projekten bisher nicht zuletzt aus Kostengründen meist  HD oder RED-One Videokameras zum Einsatz kamen, scheint Soderbergh nun ein neues Spielzeug seiner Wahl gefunden zu haben: Unsane ist sein erster Handy-Film, heimlich auf einem (oder, um genau zu sein: drei) hochgerüsteten iPhone 7 Plus gedreht, in knapp zehn Tagen mit überschaubarer Besetzung und in einem Kraftakt organisatorischer Art, wie es sich für einen echten Formalisten wie ihn gehört.

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Dualität

Tatsächlich ist es diese „bipolare“ künstlerische Natur Soderberghs, jene unberechenbare Dynamik, von der man nie genau weiß, wann und wie sie zutage tritt, die sein Schaffen endlos faszinierend macht. Denn seien wir einmal ehrlich: Auch wenn seine Filme selten so einwandfrei gelingen wie Logan Lucky, in dem er mit frischem Elan und durch die Bank ausgezeichneten Darstellern einen kühn-cleveren Heist-Movie bester, alter Schule zaubert, muss man ihn eigentlich fast immer für seine Energie und Stilsicherheit loben, die er bei aller Genre- und Medien-Wandelbarkeit stets an den Tag legt. Allein deshalb schon ist die Rückkehr des mittlerweile 55-jährigen Amerikaners als Regisseur, Kameramann, Schnittmeister sowie gelegentlich Drehbuchautor ins Kino zunächst einmal eine äußerst erfreuliche Nachricht und Unsane obendrein der anschauliche Beweis, dass Soderbergh immer noch anders kann and anders macht.

Passend dazu ist auch seine Hauptdarstellerin diesmal eine junge Frau, die sich in den letzten Jahren allzu sehr hinter so attraktiven wie lukrativen Fernsehrollen versteckt hat, ob als Anne Boleyn in der renommierten Hilary-Mantel-Adaption Wolf Hall, oder mit noch größerem Erfolg als die junge Queen Elisabeth II in dem Netflix-Hit The Crown. Für Soderbergh rückt Claire Foy nun erstmals völlig ungeschützt hinter Kostüm und Perücke hervor in den schonungslosen Focus seiner Micro-Kamera, die sie keine Sekunde aus den Augen verliert, ihr mal in den Nacken, mal ins Gesicht und immer wieder beinahe bis unter die Haut zu kriechen scheint. In einer regelrechten Tour-de-Force-Darbietung  spielt Foy eine junge Frau, die von einem Stalker verfolgt und gleichzeitig Opfer eines üblen Versicherungsbetrugs wird. Bevor es aber soweit ist, lernen wir Sawyer Valentini als smarte, professionelle  Bankerin kennen, die weiß was sie will und sich von nichts und niemandem etwas vormachen lässt. Vor kurzem erst hat es sie von Boston nach Pennsylvania verschlagen, aus Gründen, die ihrer fürsorglichen Mutter (Amy Irving) gänzlich schleierhaft sind, doch Sawyer will ihre Vergangenheit endlich hinter sich lassen und versucht stattdessen alles Mögliche, sich in ihrem neuen Leben einzurichten. Als nach einem ersten verunglückten Date jedoch erneut ihre inneren Alarmglocken anspringen, holt sie sich bei einer harmlos scheinenden Therapeutin der Highland Creek Verhaltensklinik Rat, die Sawyer unverzüglich einweist und damit das Schicksal der jungen Frau ein für alle Mal besiegelt. Denn kaum in der Klinik angekommen, wird sie vom routinierten Pflegepersonal und den bereits zugedröhnten Insassen nicht nur in geradezu kafkaesker Manier augenblicklich jeder menschlichen Vernunft und Würde beraubt, sondern Stück für Stück immer tiefer in einen nicht enden wollenden Alptraum getrieben, der selbst für Soderbergh’sche Verhältnisse auf den ersten Blick ungewöhnlich finster und ausweglos scheint.

Zumal sich auch Sawyers hartnäckiger Verehrer David (Joshua Leonard), wegen dem sie überhaupt erst in eine andere Stadt geflüchtet ist, erneut die Ehre gibt, diesmal jedoch versteckt hinter einer neuen Identität als Pfleger George, einem Unschuldsengel in Weiß, der ausgerechnet für die Vergabe der täglichen Drogenrationen zuständig ist und dabei gerne mal zur falschen Dosis oder gleich einem ganz anderen Medikament greift. Die Bilder, die Soderbergh für die zunehmende Paranoia, Vernebelung und Verzweiflung Sawyers findet, wirken dabei zunächst kalt und körnig, weniger gerahmt als trügerisch aneinander gerafft, um dem Eindruck voyeuristischer Zudringlichkeit maximale Aufmerksamkeit zu verleihen. Der Effekt ist entsprechend gewöhnungsbedürftig. Doch sobald der Psycho-Horror für seine Protagonistin zum schieren Überlebenskampf wird, scheint sich auch der Regisseur ganz und gar mit seinem neuen Equipment arrangiert zu haben, so dass die Einstellungen im Laufe der Handlung fließender, weniger abrupt und in ihrem Wesen filmischer werden – wenn auch zugleich immer verstörender.

Zweite Ebene

Ähnlich wie Side Effects, in dem Soderbergh bereits vor fünf Jahren die Grenze zwischen Wahn und Normalität auszuloten versuchte, die von der Pharma- und Gesundheitsindustrie schon damals längst kontrolliert wurde, ist ihm auch mit Unsane ein eindringlicher Thriller zum Thema gelungen, der den Zuschauer ohne lange Atempausen und mit Hitchcock im Sinn von einer frappierenden Wendung zur nächsten führt. Dass er dabei mitunter auf Perfektion verzichtet oder auch ein, zwei gravierende Plotlöcher überspringt, um schneller auf den Punkt zu kommen, sei ihm in diesem Fall verziehen. Denn schließlich geht es dem Regisseur, der bereits mit seinem Erstling Sex, Lies and Videotapes 1989 in Cannes eine Goldene Palme gewann, in Unsane um noch etwas Anderes, Größeres und Dringlicheres: Nämlich sexuelle Belästigung im allgemeinen wie im besonderen.

Noch bevor ihr in Highland Creek endgültig jede Achtung entsagt wird, muss sich Sawyer im Alltag gegenüber einer Männerwelt behaupten, die sie bestenfalls als musternd und schlimmstenfalls als lüstern erlebt, während sie innerhalb der geschlossenen Anstalt dann gar keine andere Wahl mehr hat, als sich von einem Peiniger quälen zu lassen, der Liebe ausschließlich als Besitz und Nähe als Kontrolle versteht. Die über allem schwebende prekäre Frage, ob die junge Frau nun allerdings tatsächlich gegen eine reale Gefahr oder vielleicht doch nur ihre eigene Psychose  ankämpft,  wird daraufhin zum Dreh- und Angelpunkt des Films, und das Drehbuch, das diesmal aus der Feder von Jonathan Bernstein und James Greer stammt, verhält sich in dieser Hinsicht angemessen vage, während Soderbergh geschickt zwischen Psychoterror und Exploitation zu changieren versteht, um seine kulturkritische Pointe am Ende vor dem Ausverkauf zu bewahren.

Das Beeindruckendste an Unsane ist und bleibt jedoch Claire Floy, die hier weder Einsatz noch Mühen scheut, um ihre Figur glaubhaft wirken zu lassen, ohne dass man sie jemals eindeutig als hysterisch kategorisieren oder aber als hilfloses Opferlamm abtun könnte. Ihre Sawyer ist eine brutal zugerichtete Frau, körperlich wie emotional. Aber gebrochen ist sie deshalb noch lange nicht. Kühn und unerschrocken schlägt sie sich stattdessen durch den Film, der ihr vermutlich auch als kleine Vorübung für ihre nächste große Rolle als Hackerin Lisbeth Salander im The Girl With The Dragon Tattoo -Sequel The Girl in the Spider’s Web unter der Regie von Fede Alvarez diente.

Und Soderbergh? Auch für ihn scheint es eine neue Zukunft im Kino zu geben, die vielleicht nicht immer einfach wird, aber in jedem Fall spannend und unberechenbar bleiben dürfte, solange es ihm gelingt, auch zukünftig gegenüber dem Studiosystem weitestgehend unabhängig zu arbeiten. Ob und in welchem Umfang dazu weiterhin ein iPhone gehören wird, lässt sich vielleicht am besten mit einer eigenen Aussage des Regisseurs prognostizieren: “I think this is the future,” begeisterte er sich unlängst im Gespräch mit dem Filmportal Indiewire. “I look at this as potentially one of the most liberating experiences that I’ve ever had as a filmmaker, and that I continue having.” – In diesem Sinne: Frohes Schaffen, Herr Soderbergh!