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Juliet Naked Ethan Hawke

Juliet, Naked

Dem Bauchgefühl folgen

| Pamela Jahn |
Ethan Hawke liebt die Schauspielerei, die Musik und die Regie. Nicht jedem gelingt es, alle drei Dinge elegant unter einen Hut zu bringen. Er hat es geschafft. Jetzt ist er in der Nick-Hornby-Verfilmung „Juliet, Naked“ im Kino zu sehen. Ein ausführliches Gespräch.

Er erschlägt einen fast mit seinem sonnigen Gemüt und der Höflichkeit, die damit einhergeht. Wenn Ethan Hawke den Raum betritt, hat man im Grunde keine Wahl: Man muss ihn einfach gern haben – so wie in seinen Filmen. Egal ob er darin den nervigen, unfähigen oder gebrochenen Typ Mann gibt, ob er einen chaotischen Scheidungsvater (Boyhood), einen Polizisten in der Bredouille (Brooklyn’s Finest) oder den Ex-Militär-Priester einer kleinen Kirchengemeinde im New Yorker Hinterland (First Reformed) spielt, stets gibt sich Hawke souverän, menschlich und überzeugend in dem, was er tut. Dabei ist er selbst alles andere als von sich eingenommen, sondern versteht es, die Welt und die Regisseure (Richard Linklater, Andrew Niccol, Antoine Fuqua, Paul Schrader), mit denen er arbeitet, immer wieder aufs Neue von seiner Brillanz zu überzeugen, ohne dass er dafür im Gegenzug irgendwas erwarten würde.

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Neben der Schauspielerei hat der 1970 in Austin geborene Texaner in seiner Arbeit mittlerweile nicht nur der Regie, sondern auch der Musik einen Platz zugewiesen, nachdem sein Herz schon von klein auf dafür schlug. Doch anstatt selber zum Instrument zu greifen, spielte er lieber den großen, zerrissenen Meistertrompeter Chet Baker in Born to Be Blue, drehte einen Dokumentarfilm über den Pianisten Seymour Bernstein oder inszenierte ein (bei der jüngsten Viennale gezeigtes) Drama über den 1989 verstorbenen Country-Folk-Musiker Blaze Foley, der wunderbare, zeitlose Songs schrieb und es doch nie schaffte, ein Star zu werden.

Ein ähnliches Schicksal ist auch Tucker Crowe beschieden, dem abgehalfterten Alternative-Folk-Rock-Sänger, der in Jesse Peretz’ Juliet, Naked mit der gewohnten Inbrunst von Hawke verkörpert wird. Anstatt sich auf seine Musikerkarriere zu konzentrieren, hat Tucker die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, Kinder in die Welt zu setzen, mit verschiedenen Frauen, versteht sich, ohne die dazugehörigen väterlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Doch während sich eine neue Romanze auftut, holt ihn die eigene Vergangenheit ein, was für entsprechende Verwirrung sorgt. Es ist eine unterhaltsam schräge Rolle, die Hawke auf den Leib geschrieben ist wie Jesse in Richard Linklaters Before-Filmen oder Mason Evans Sr. in Boyhood, und sie ergibt Sinn, wenn man den 48-Jährigen über seine eigene Karriere, Vorlieben und Prinzipien reden hört. Auch wenn Hawke persönlich von seinen Figuren kaum weiter entfernt sein, als Schauspieler kaum aufgeräumter und professioneller in Erscheinung treten könnte, so bleibt ihm doch stets die Möglichkeit, in seinen Rollen das Chaos oder die Verzweiflung walten zu lassen, die er als Mensch in seinem eigenen Privatleben wohl selbst niemals zulassen würde.

 


Interview mit Ethan Hawke

Mr. Hawke, Sie sind noch nicht fünfzig und werden bereits mit Auszeichnungen für Ihr bisheriges Lebenswerk gewürdigt – wie zuletzt in Locarno. Mit welchen Gefühlen blickt man da auf das, was jetzt noch kommen soll?
Ethan Hawke: Mit verschiedenen Gefühlen. Sidney Lumet hat am Ende seiner Karriere gesagt: „Alle wollen sie mich mit Preisen für mein Lebenswerk überschütten, aber keiner will, dass ich noch einen Film mache.“ Man sollte diese Auszeichnungen also mit Vorsicht genießen. Obwohl ich nicht hoffe, dass ich bereits am Ende meiner Karriere stehe. Das heißt, in gewisser Hinsicht fühle ich mich auch komplett unwürdig, wenn ich meine Arbeit mit der von anderen Kollegen vergleiche, die diese Art von Preisen mindestens dreimal verdient hätten. Aber Richard Linklater hat mir einen guten Rat gegeben, als ich ihm davon erzählte. Er meinte: „Bleib auf dem Teppich. Das sind lediglich sogenannte Mitt-Karriere-Checks oder Bestandsaufnahmen, die dir zeigen, dass du es bis hierher geschafft hast. Danach kommt die Phase, in der sie dich abschreiben und für erledigt erklären, und nur wenn du trotzdem lange genug dabei bleibst, kommst du in die letzte Runde, in der sie dich schließlich dazu einladen, den Juryvorsitz bei irgendeinem der großen Filmfestivals zu übernehmen.“ Wenn Richard recht hat, stehe ich also gerade erst an der Schwelle zu Phase zwei.

In Ihrem Dokumentarfilm „Seymour: An Introduction“ über den Pianisten Seymour Bernstein gestehen Sie, dass Sie oft kämpfen mit sich und dem, was Sie tun. Ist das bis heute so, oder sind Sie in der Hinsicht mittlerweile selbstsicherer geworden?

Ethan Hawke: Letzteres, denke ich. Ein Grund dafür, warum ich den Film damals gemacht habe, war, dass ich Zeit mit Seymour verbringen wollte. Manche Menschen haben eine Midlife Crisis und kaufen sich einen Porsche oder stopfen sich mit Drogen voll, andere machen einen Dokumentarfilm über ein Klavierwunder. Seymour Bernstein ist ein Mann, der mit 30 Jahren seine erfolgreiche Konzertkarriere aufgegeben hat, um sich dem Unterricht zu widmen. Und wenn es so etwas wie Botschaften im Film gibt, dann lautet sie ganz sicher: Du bist genug. Ich glaube, die Menschen wollen immer bis nach ganz oben, auf die höchste Bergspitze, um dort eine Blume zu finden, die bisher noch niemand vor ihnen gesehen hat. Und plötzlich hören sie eine Stimme, die ihnen zuflüstert: „Du musst nach Istanbul gehen und den Goldkelch finden“, oder so etwas in der Art. Es gibt Menschen, die brauchen dieses Gefühl, einen Auftrag zu haben. Was mir die Zeit mit Seymour gezeigt hat, war, mich selbst zu akzeptieren, so wie ich bin. Aber das lernt man natürlich nicht von heute auf morgen. Daran muss man arbeiten, immer und immer wieder.

Wenn man sich Ihre bisherige Filmografie anschaut, fällt auf, dass Sie sich für jemanden, der so viel gemacht hat, als Schauspieler und als Regisseur, erstaunlich wenige Fehltritte geleistet haben. Dass Sie trotz einer gewissen Experimentierfreudigkeit stets auf extrem hohem Niveau spielen. Wie schafft man das?

Ethan Hawke: Danke, ich hoffe, dass Sie recht haben. Dazu fällt mir ein: Ich habe neulich einen Artikel gelesen, in dem stand, dass ich aufgrund des internationalen Erfolgs von First Reformed und den guten Kritiken zu Blaze das beste Jahr meines Lebens hätte und wahrscheinlich demnächst meinen „Matthew-McConaughey-Moment“ erleben würde. Und Richard Linklater, der den Artikel auch gelesen hatte, hinterließ mir daraufhin eine Nachricht, die mich unheimlich gerührt hat. Er sagte: „Du kannst gar keinen McConaughey-Moment haben, weil du dafür erst mal abstürzen müsstest, um wieder aufzusteigen. Was die da schreiben, ist totaler Quatsch, weil du nämlich seit ewig immer das Gleiche tust, und zwar gleich gut.“ Und da ist was Wahres dran. Ich habe in meiner Laufbahn als Schauspieler tatsächlich immer mehr oder weniger das Gleiche getan. Und zugegeben, ich hatte Glück damit. Aber ich glaube, dass ein Teil dieses Glücks auch selbstkonstruiert ist. Zum Beispiel war ich nie aufs große Geld aus, das macht schon mal viel aus. Und ein Grund dafür, dass es das Glück so gut mit mir gemeint hat, liegt vielleicht auch darin, dass ich zu Beginn meiner Karriere meine Probleme immer mit noch mehr Arbeit zu lösen versuchte. Als meine erste Ehe zerbrach, war das einer der schwersten, dunkelsten und traurigsten Abschnitte in meinem Leben. Damals habe ich einfach noch härter gearbeitet als sonst und bin so darüber hinweggekommen. Damals bin ich auch zurück ans Theater gegangen, denn das Theater ist die allerbeste Medizin. Es ist unglaublich schwer. Doch ich bin davon überzeugt, dass man, wenn man sich wirklich mit Haut und Haaren in etwas hineinwirft, automatisch als neuer Mensch daraus hervorgeht, weil man dabei an die eigenen Grenzen gestoßen ist. Weil man sich dem eigenen Ich gegenüber behaupten musste. Das macht etwas mit einem, ob man will oder nicht.

Ihre Karriere ist ja auch in der Hinsicht besonders, dass Sie mit Ende vierzig bereits seit mehr als dreißig Jahren im Showgeschäft sind.
Ethan Hawke: Stimmt, das ist nicht jeder. Aber neulich habe ich Christian Bale wieder einmal im Fernsehen gesehen, was mich insgeheim glücklich macht, weil so ein toller Schauspieler aus ihm geworden ist. Sie müssen wissen: Ich war zum ersten Mal neidisch auf Christian Bale, da war ich gerade neunzehn. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich der jüngste Schauspieler in meiner Agentur. Sie repräsentierten wirklich alles und jeden, der damals Rang und Namen hatte: Robert Redford, Paul Newman, Warren Beatty, was weiß ich. Und ich war wahnsinnig stolz, der Jüngste auf ihrer Liste zu sein – und dann kam Christian Bale, Jahrgang 74. Das werde ich nie vergessen. (Lacht.)

Die Regisseure, mit denen Sie arbeiten, schätzen und engagieren Sie immer wieder neu. Andrew Niccol zum Beispiel schwärmt vor allem von Ihrer Herzensgüte. Nur sagen dürfe man Ihnen das nicht. Warum eigentlich nicht?Ethan Hawke: Weil es keinen Sinn ergibt, stolz darauf zu sein, dass man ein guter Mensch ist. Denn jemand, der Gutes vollbringt, weiß, dass Selbstgefälligkeit nur ein Hindernis sein kann. Und auch ich bin ja keineswegs perfekt. Im Gegenteil. Wir machen alle Fehler, und zwar ständig. Aber was Andrew meint, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass wir uns zu einem ganz speziellen Zeitpunkt getroffen haben. Wahrscheinlich sagt er das, weil wir damals einfach gut zueinander waren. Wenn Sie mich fragen, ist Gattaca einer der besten Filme aller Zeiten. Andrew hatte mit dem Film etwas zu sagen, und er hat es geschafft, den Film auf die Beine zu stellen. Heute würden Studios so ein Projekt gar nicht mehr finanzieren. Und niemand würde daran verdienen, haben wir ja damals auch nicht. Ich weiß noch, wie Andrew und ich uns nach dem Premierenwochenende in Brooklyn zu einem Spaziergang getroffen haben, und er war schrecklich niedergeschlagen, weil das Studio kein Zitat mit Superlativen für das Werbeplakat der kommenden Woche auftreiben konnte – nicht ein einziges. Und seine Augen liefen rot an, er fluchte. Zwei Wochen später gab es natürlich Reaktionen, auch sehr positive, aber da war es längst zu spät. Es war so ungerecht. Aber so ist das eben. Als Before Sunrise in die Kinos kam, wollten auch alle nur Reality Bites 2 sehen und wir waren enttäuscht. Aber jetzt, über zwanzig Jahre später, sitze ich immer noch hier und rede über den Film.

Apropos „Before“-Trilogie. Darf man eigentlich noch auf eine weitere Fortsetzung hoffen?
Ethan Hawke:
Hoffen dürfen Sie. Ob es tatsächlich eine geben wird, kann ich nicht sagen. Es besteht eine Symmetrie zwischen den drei Teilen, die ich sehr mag. Für mich hat das Ganze etwas in sich Abgeschlossenes. Aber das heißt nicht, dass ich mir nicht vorstellen könnte, Jesse und Celine in einem komplett anderen Setting, einer anderen Art von Film wieder zu treffen. Mir fällt gerade der Name nicht ein, aber es gab diesen großartigen Film vor ein paar Jahren, über ein altes Paar, das stirbt …

„Amour“ von Michael Haneke?
Ethan Hawke:
Genau! Ein toller Film. Nachdem Julie Delpy ihn gesehen hatte, schrieb sie mir: „Verdammt! Sie haben unsere Fortsetzung gedreht.“ Daraufhin schrieb ich ihr, dass ich vor kurzem einen Traum hatte über den vierten Film, voll sinnlich, also eigentlich komplett erotisch auf eine Weise, die Bertolucci die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Und was schreibt Julie? „Zu spät, alles schon gelaufen.“ Also, Sie sehen, wir müssen das einmal abwarten.

Sie haben gerade zwei weitere Filme über verkannte Musiker gedreht – in „Juliet, Naked“ spielen Sie selbst einen, bei „Blaze“ haben Sie Regie geführt. Woher rührt Ihre große Leidenschaft für die Musik?
Ethan Hawke:
Ich denke, es ist eine Art Würdigung der Menschen, mit denen ich einen Teil meines Lebens verbracht habe. Es heißt doch immer, man soll über das schreiben, was man kennt, nicht wahr? Ich kenne Leute wie Blaze. Ich habe ihn nie persönlich getroffen, aber kenne dafür andere Menschen, die ein ähnliches Lebensmuster hatten. Und deshalb habe ich mich qualifiziert gefühlt, die Geschichte zu schreiben. Mit anderen Worten: Ich bin einfach meinem Bauchgefühl gefolgt. Das bringt mich auch wieder zu Seymour, denn der sagt im Film einmal: „Solange du tust, was dich glücklich macht, und daran arbeitest, wirst du wachsen und verstehen, wer du bist.“ Tut man das nicht, wird man irgendwann zu einem der Menschen, die auf ihr Leben zurückblicken und denken: Ich habe dreißig Jahre verschenkt. Ich bin auf Wunsch meines Vaters Matrose geworden, dabei habe ich es gehasst, weil ich insgeheim Angst vor Wasser habe. Nur konnte ich meinem Vater das nie sagen. Seymour hatte viele solcher Kandidaten. Schüler, die von ihren Eltern zum Klavierunterricht geschickt wurden, ohne dass sie selbst auch nur einen Funken Interesse daran gehabt hätten. Aber mit dem, was die Eltern für einen wollen, kommt man nicht weit. Man muss selber etwas wollen, und zwar mit Entschiedenheit.

Es scheint ganz so, als hätten Sie Ihre Mission gefunden?
Ethan Hawke:
Vielleicht, aber diese Mission geht weit über diese beiden genannten Filme hinaus. Da gehört Seymour dazu und auch Born to Be Blue. Ich war schon als Kind besessen von Musik, aber ich habe nie von der Musik gelebt, habe nie mein Geld damit verdient. Deshalb hat Musik auch immer noch etwas Echtes, etwas Wahres für mich. Ich erinnere mich an ein Zitat aus meiner Kindheit, das bei uns im Badezimmer an der Wand hing. Darauf stand: „Um eine Kunst zu meistern, muss man drei zu schätzen wissen.“ Scheinbar habe ich mir den Spruch zu Herzen genommen. Die Schauspielerei ist mein Lebenselixier, und die Wechselwirkung mit der Regie und der Musik beflügelt meine Arbeit insgesamt. Nur so bleibe ich neugierig und offen für alles. Aber, wie gesagt, nichts von dem ist geplant. Ich folge einfach meinem Bauchgefühl. Das hat mich so weit gebracht, und ich bin längst nicht am Ziel.

 

Lesen Sie hier die Filmkritik zu Juliet, Naked