ray Filmmagazin » Filmfestivals » Das Prinzip Öffentlichkeit
Werner Ruzicka

Duisburger Filmwoche

Das Prinzip Öffentlichkeit

| Gabriela Seidel-Hollaender |

Nach 34 Jahren als Leiter der renommierten Duisburger Filmwoche tritt Werner Ružička, eine lebende Institution, in den Ruhestand. Wobei man das bei ihm nicht so wörtlich nehmen darf. Ein ausführliches Gespräch.

Werbung

Sie waren seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche, dies war nun Ihr letztes Jahr. Wie fühlen Sie sich?

Jeden Tag in verschiedenen Temperamenten. An sich verweigere ich mir, daran zu denken, aber dann kommt doch die Überlegung, das Gefühl, dieses ist jetzt das letzte Mal. Aber weil das Festival so gut in Fahrt gekommen ist, bin ich guter Stimmung. Hinzu kommt – wir sitzen ja draußen, in einer erstaunlichen Herbstsonne und das macht die Stimmung noch ein bisschen besser. Das Ende naht, aber auch alle guten Sachen müssen ein Ende haben.

Sie sind wirklich das Gesicht der Duisburger Filmwoche und seit 34 Jahren Leiter, aber das Festival gibt es ja schon ein bisschen länger. Wie und unter welchen Umständen sind Sie zur Filmwoche gekommen?

Ich wurde damals nach meiner Zeit in Bochum beim Kommunalen Kino von zwei Filmemachern aus München besucht, Gabriele Voss und Christoph Hübner. Die kamen hierher und wollten in der Region kontinuierliche Filmarbeit betreiben, das machten sie dann im Ruhrfilmzentrum. Und dann habe ich meinen Job bei der Stadt aufgegeben und hab da mitgemacht, als Teammitglied, Produktionsleiter, ich habe auch bei einem Film Regie gemacht.

Zu der Zeit gab es eine Wende hier in Duisburg: Die Filmwoche war ja zuerst eine Art Informationsschau à la Solothurn und zeigte die Filme des Jahres aller Genres des deutschen Films. Dann haben die damalige Leiterin Angela Hardt und Klaus Wildenhahn die Überlegung entwickelt, dem kümmerlichen Genre Dokumentarfilm etwas mehr Öffentlichkeit geben zu wollen. Der Dokumentarfilm kam im Kino nicht mehr vor, und im Fernsehen waren das diese üblichen Features: Jemand schrieb was, und ein anderer ging Bilder fischen. Die Region und die Menschen kamen nicht zu Wort, bestenfalls als Kulisse oder als Streikformation. Und dann hat man sich zusammengesetzt und die Konstitution der Duisburger Filmwoche etabliert und diskutiert, mit dem Anspruch, mehr Öffentlichkeit zu erreichen und dem Land und den Menschen eine Stimme zu geben. Ich wurde dann schon in die zweite Kommission eingeladen, damals war ich der einzige Ruhrgebietler in der Kommission, das war also naheliegend. Ich war jung, das war auch naheliegend, und deswegen bin ich da reingerutscht. Ich hatte dann auch im zweiten oder dritten Jahr meinen eigenen Film hier laufen, und so ergab sich das. Ich wurde mit den Kollegen bekannt, und es gab dann die ersten – wenn man so will – Kerne der späteren Duisburger Gemeinde. Farocki war da und andere. Es gab nie die Notwendigkeit und Motivation für mich, hier wegzugehen, trotz mancher Angebote, denn ich fand diese Form Duisburger Filmwoche sehr interessant. Der Bezug auf eine Auswahl von wichtigen Dokumentarfilmen, immer in Richtung auf Innovation des Genres und natürlich das Gesprächsformat. Auch damals schon dachten wir, dass die Gespräche, die ja meistens ziemlich interessant waren und ungewohnt wichtig waren, denn die anderen Festivals hatten damals keine solche Gespräche, die auch festgehalten wurden. Bei uns entstanden dann daraus diese Protokolle, die alle gesammelt sind und die es einem jetzt erlauben, die letzten 40 Jahre der Duisburger Festivalgeschichte nachzuvollziehen. Das führte schließlich dazu, dass die Filmwoche nicht als einmaliger Vagabund existierte, sondern jedes Jahr stattfand und auf diese Weise wirken konnte. Dann wurde es interessant, weil langsam die Hochschulen gegründet wurden und dann Studenten kamen und nach und nach verschiedene Generationen von Dokumentaristen Duisburg als ihre Wagenburg verstanden haben.

Warum Duisburg?

Zum einen naheliegend, weil hier damals die sozialen Fraktionen am deutlichsten auftraten und wahrgenommen werden konnten. Darüber gab es viele Filme, auch von Wildenhahn. Und Duisburg ist eine Stadt, die wenig nach außen repräsentieren will und kann, und da muss man nicht wie andersowo in Berlin oder München um Aufmerksamkeit buhlen. Die Filmwoche war hier Solitär in der Kulturlandschaft, mit der sich Duisburg auch gerne geschmückt hat. Dann ist Duisburg trotz allem auch noch eine Arbeiterstadt, das heißt, es gibt eine bestimmte Bodenständigkeit, und das gefällt vielen Leuten, und so wurde dann das Schimanski-Image ein bisschen überstrahlt davon, dass Duisburg auch eine Dokumentarfilmstadt ist.

Anlässlich der diesjährigen Festivalausgabe haben Sie zusammen mit Alexander Scholz eine sehr schöne Publikation herausgebracht: „Öffentliches Reden über den Dokumentarfilm“, in der Regisseure, Redakteure, Journalisten und Wegbegleiter ihre Erinnerungen an die Duisburger Filmwoche und die Pdiumsdiskussioonen beschreiben. Sie haben es ja auch schon erwähnt, das Reden über den Dokumentarfilm ist ein ganz wichtiger Teil des Festivals, dem genauso viel Zeit eingeräumt wird wie den Filmen selbst. Es gibt ja unter den Festivals Rivalitäten, weswegen es vielerorts immer mehr Reihen und Sonderprogramme gibt, die dann wiederum in Konkurrenz zueineander stehen. In Duisburg gibt es einen Film und danach ein Gespräch. Warum ist Ihnen dieses Prinzip immer so wichtig gewesen?

Zum einen war es so, dass ich merkte, dass die Autoren, die einen Film gemacht hatten, in einer bestimmten Einsamkeit waren, sie wussten nicht, wie kommt das beim Zuschauer an. Und dass sie unzufrieden waren, wenn sie auf anderen Festivals ein Q&A hatten, mit gängigen einfachen Fragen: Woher kam die Idee? Und: Haben sie schon einen Plan für einen nächsten Film und so. Das war unbefriedigend, wenn man an einem Film ein bis zwei Jahre lang gearbeitet hat, und dann kommt nichts zurück. Dieser Mangel an Reflektion ist auf der Autorenseite immer artikuliert worden. Auf der anderen Seite ist ein Dokumentarfilm auch immer etwas, das sich mit den Lebenswelten der Zuschauer verbindet, also das, was da an Welt gezeigt wird ist auch Teil der Zuschauer selber, und wir wollten immer schon dass auch das Publikum, die Öffentlichkeit einen Resonanzboden bildet und sich artikulieren kann. Das Prinzip Öffentlichkeit ist im Grunde genommen die Kernmotivation, die Gespräche führen zu wollen.

Dass man diesen sozialen Raum, den der Dokumentarfilm herstellt, als Impetus des Fragens und Reagierens nutzt. Und wir resümieren in den Protokollen, und das haben immer sehr gute junge Wissenschaftler und Studenten gemacht, aus denen immer etwas geworden ist – Klaus Kreimeier und Dietrich Leder und viele andere mehr- auch Lars Henrik Gass hat mal Protokolle geschrieben. Und so sind die Protokolle auch ein Beleg für die dokumentarische Diskursgeschichte. Für Mentalitäten der Begrifflichkeit. Harun Farocki sagte einmal: Früher war’s Karl Marx, dann war’s Foucault und so weiter.

Gerade ist auch das  Buch „Duisburg Düsterburg. Werner Ružička im Gespräch“ von Simon Rothöhler und Matthias Dell im im Verbrecher Verlag erschienen, in dem die beiden ein langes Gespräch mit Ihnen über die Geschichte der Filmwoche führen. Abgeschlossen wird das Buch mit einem Essay von Harun Farocki: „Dreißig Jahre Düsterburg“ aus dem Jahr 2006.

Ja, ein schönes Buch. Nochmal zu der Frage, warum das Reden so wichtig ist. Es gibt einen Spruch von Nietzsche: „Die Künstler wollen nicht von allen gelobt und getadelt werden, sie möchten verstanden werden.“ Und dieses Verständnis von Seiten des Publikums macht den Film um so vieles reicher.

Solche Gespräche können natürlich auch einschüchtern. Serpil Turhan hat in dem Band „Öffentliches Reden“ beschrieben, wie viel Respekt sie vor der Runde hatte, als sie ihren ersten Film hier vorgestellt hat. Der Filmemacher steht im Zentrum und es ist auch eine Art Feuerprobe der Argumentation. Andererseits ist es eine Schule. Auch die Protokollanten setzen sich ja durch das Schreiben noch einmal mit dem Gesagten auseinander. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man die Gespräche aufnehmen  und anschließend transkribieren würde.

Ja, das sind redigierte Arbeiten, das heißt, man übernimmt auch von Seiten des Protokolls Verantwortlichkeit. Es wird etwas festgehalten, räsonniert, pointiert, das ist eine besondere, eine weitere Gattung, wenn man so will. Das wollten wir auch, die Textsorte als besondere Gattung etablieren. Und ich selber, wenn ich zurückblicke und mich vorbereite auf Diskussionen, wie zum Beispiel gestern auf die mit Volker Koepp, nutze ich dies auch. Da kann man immer nachschauen, wie damals so die Modi und die Stimmlagen waren im Reden und im Denken und die Begrifflichkeit. Und deswegen ist das Protokollwesen auch als Archivierung von Dokumentarfilmdiskursen eine gute Angelegenheit.

Haben Universitäten Interesse angemeldet, sich dieser Protokolle anzunehmen und sie in der Bibliothek zugänglich zu machen, um sie in den entsprechenden Fachbereichen zu nutzen?

Ich habe das Gefühl, dass die Motivation von Simon Rothöhler, der an der Uni in Bochum Professor ist, genau diese war. Die Duisburger Filmwoche als einziges Festival, das seine Diskurse archiviert, die ja auch gleichzeitig ein Archiv der Geschichte des Ruhrgebiets ist. Es gibt viele Leute von denen ich weiß, dass sie mit den Protokollen arbeiten, wenn sie wissenschaftliche Arbeiten schreiben.

Jeder Festivalausgabe wird ein charakteristisches Motto vorangestellt. Das ist eine weitere Besonderheit der Duisburger Filmwoche. Die stehen dann aufgestellt mit einzelenen Lettern vor dem Podium und geben dem Ganzen einen Rahmen, eine Richtung, etwas, worauf man sich beziehen kann. Wie kommt es zu diesen Motti? Gibt es da eine Diskussion in der Kommission?

Ja. Es ist so, dass wir uns am Ende des Festivals zur Nachbereitung treffen, in Wien oder an einem anderen Ort, meistens jedenfalls nicht in Duisburg. Und dann, auch um die neue Session wieder anzuleiern, bringen ich und andere ein paar Vorschläge mit, und dann reden wir drüber.

Also nach einer Ausgabe für die nächste?

Ja. Wir mussten lange das Missverständnis ausräumen, dass wir die Filme dem Motto gemäß auswählen. Das ist es nicht. Es ist eine Art Deutungsrahmen der osmotischen Grenzen: Das könnte etwas sein, in dessen Kontext man sich das Milieu des künftigen Jahrgangs vorstellen könnte. Im letzten Jahr war es „Mittel der Wahl“, naheliegend für die ganzen Wahlen, die es gab, Bundestag, Trump, Macron, Großbritannien und so weiter. Und dann zugleich so ein bisschen dialektisch umgedreht, „Mittel der Wahl“ auch bezogen auf die künstlerischen Mittel, die die Autoren wählen. Und dieses Vexierbild so ein bisschen – passt das, passt das nicht? – ist immer als Referenz ganz gut. Wir hatten einmal ein Motto „Räume“, das hat dann zum Beispiel Philipp Scheffner irgendwann, als er was entwickelte, genutzt. Das Motto ist ein kleiner Gimmick, der auch Spaß macht.

Es bestimmt auch den Stil der Filmwoche. Es gibt dem Festival ein Gesicht, und es entsteht dann in Zusammenhang mit den Trailern auch ein kleines editorisches Kunstwerk, die Verbindung von optischen und thematischen Teilen.

Ja, schön. Genau das soll es sein.

Die Filme der Duisburger Filmwoche gelten als formal und inhaltlich herausfordernd, relevant und politisch. Tonangebend für die Kunst des Dokumentarfilms. Wie werden sie ausgesucht? Es gibt eine Kommission. Gibt es in der Auswahlphase auch schon so viele Diskussionen wie danach? Und gibt es eine Vorauswahl?

Ja, wahrscheinlich wie woanders auch. Man kann nicht alle Filme – 800 oder mehr – zu Ende sehen. Deswegen haben wir Vorauswahlen. Unsere Ombudsmänner in der Schweiz und Österreich besuchen die einschägigen Festivals, und dann bringen sie etwas mit und sagen, ich hab den mal mitgebracht, aber … und dann machen wir die üblichen Sichtungen. Gott sei Dank haben wir es geschafft – was lange Jahre mühselig war – dass so Hobbyfilmer mit ihren Reisefilmen nicht mehr kommen.

Es hat sich herumgesprochen, dass solche Filme nicht zur Filmwoche passen.

Ja. Auch manche Fernsehregisseure haben verstanden, dass sie uns bestimmte Filme nicht zu schicken brauchen. Wir kriegen schon mit, was im Fernsehen passiert. Ja, und dann sitzen wir zusammen und schauen uns die Filme an und haben Zeit, zweimal je eine gute Woche. Es wird eingelegt (inzwischen natürlich digital, was eine große Arbeitserleichterung ist), und dann geht’s los. Bis jemand sagt: „Unterbruch, bitte“ – den Begriff hat ein Schweizer Kollege eingeführt – und dann muss der oder die sagen, warum. Einer muss dann sagen „Bitte weitergucken“, und dann wird weitergeschaut. Es kann bis zu sechs oder sieben Unterbrüche geben, bis sich zwei Fraktionen formiert haben: eine, die meint, um keinen Preis, und eine, die meint, der Film hat was. Und nicht selten ist es so, dass so ein kontroverser Film dann ins Programm kommt oder in den Kreis der nominierten Filme. Das sind alle Filme, die wir zu Ende gesehen haben. Und dann entsteht genau das, was Sie eben angedeutet haben, dass in vielen Fällen die Risslinien in unseren Debatten oder die Kontroversen dann schon auch das sind, was später auch in der Öffentlichkeit entsteht.  Wir haben auch „Hausautoren“, die werden sofort mit in die Kommission genommen, weil wir die Kontinuität bei jungen Autoren sehr schätzen. Und dann sind die zu Ende geschauten Filme die „Nominierten“, und die werden dann die auf 17 bis 20 (plus Extras) Programmplätze verteilt. Die Filme, die alle Voten haben, haben das Recht auf Priorität, und danach kommen die anderen, die nur ein oder zwei Stimmen haben. Wir nehmen uns dann viel Zeit, mehr als früher, das Programm zu komponieren. Durchaus mit so einer Ambition, eine Montage von Filmen und Stil entstehen zu lassen. Dass man nicht an einzelnen Tagen so was wie Themenblöcke hat, das ist ja Wahnsinn. Und dann sind die Kommissionskollegen auch die Moderatoren der einzelnen Filme. Sie können sich Filme wünschen oder sie werden ihnen zugeteilt, und so entsteht dann immer etwas, wovon wir uns wünschen, dass das Publikum diesen Vorschlägen folgt. Ganz selten gibt es die Sitaution, dass wir hinterher denken, dass es nicht nötig war, einen bestimmten Film zu zeigen.

Es gibt auch manchmal die Situation, dass wir Filme gerne gezeigt hätten, aber nicht konnten. Der neue Geyrhalter-Film zum Beispiel. Den hätten wir gern gehabt, der Film ist großartig, aber – und das ist auch so eine Sache, die Sie vorher beschrieben haben: Manchmal gibt es Konkurrenz oder Standortbalgerei um einzelne Filme mit anderen Festivals. Amsterdam zum Beispiel erlaubt nicht, dass Filme vorher anderso laufen, und das Festival ist wegen des Marktes mächtig geworden. Leipzig ist nicht ganz so schlimm, weil die doch einen anderen Geschmack zu haben scheinen. Aber auch das Berlinale-Forum sagt manchmal, nee, den haben wir ausgewählt, Werner, tut uns leid. Die Autoren wollen dann auch selbst lieber im Forum oder in Amsterdam ihre Premiere feiern, wenn sie die Chance dazu haben. Dann versuchen wir zu reden, aber gegen die Ökonomie des Marktes und auch gegen die Produzenten, die sagen, der Film muss rückfinanziert werden, können wir nicht anstinken.

In Duisburg ist es andererseits ja keine Auflage, dass die Filme ihre deutsche oder europäische Premiere hier feiern müssen.

Nein. Und das ist auch ein gewaltiger Vorteil. Zum einen haben wir keine Längen- und Formatauflagen. Es war ja damals ganz schlimm, als wir die ersten waren, die Videos gezeigt haben. Oder auch, als wir die ersten waren, die Fernsehleute eingeladen haben. Mir hat damals Hans-Dieter Grabe geschrieben: „Werner, du warst der erste, der uns Fernsehidioten eingeladen hat“, und Grabe ist ein großartiger Dokumentarist, den man nicht bestrafen kann, nur weil er im Fernsehen und mit Fernsehformaten arbeitet.

Außerdem ist das Fernsehen ein wichtiger Faktor für den Dokumentarfilm.

Ja. Und eben auch, dass wir keine anderen Formatvorgaben für die Filme haben. Wir zeigen alle Längen, kurze und lange Filme, auch Halbstünder von jungen Autoren. Wenn ein Film gut ist, zeigen wir ihn.

Warum eigentlich nur Dokumentarfilm? Sie sagten vorhin, dass es ursprünglich darum ging, dem Dokumentarfilm eine Bühne zu geben. Unterdessen ist es aber so, dass die Genres sich ja immer mehr mischen. Es gibt so viele Hybride und Mischformen, Dokumentarfilme mit Spielszenen, Dokumentarfilme, die komplett durchinszeniert sind. Wie geht ihr damit um? Muss man die Ausrichtung der Filmwoche unter Umständen überdenken?

Ich habe eine kleine Theorie, wobei es ohnehin fraglich ist, wie sich die verschiedenen Genres noch halten können. Ich rede vom „Dokumentarischen Körper“. In dem Moment, wo in einem Film Menschen für sich stehen, meintwegen auch spielen, handelt es sich um einen Körper. Und das ist für mich eine Grenze.

Menschen oder Schauspieler?

Menschen. Das ist genau der Unterschied, die besten Schauspieler können das nicht. In jeder Szene die man sieht, zögern oder nachdenken. Wir haben das immer offensiv thematisiert, diese osmotische Beziehung. Wir hatten einmal ein Motto „Echt falsch“, wo wir darüber auch auf dem Podium viel gesprochen haben. Wir haben auch einmal einen total fiktionalen Dokumentarfilm – wir haben das erst gar nicht gemerkt – gezeigt. Wir haben auch immer über das Prinzip von Seidl und Glawogger – Was ist das, was dahinter steht? – diskutiert. Hinter den Figuren, hinter den dokumentarischen Körpern. Wir sind auch die ersten gewesen, die Dokusoaps gzeigt haben, „Abnehmen in Essen“ war das damals, eine gute Serie. Wir haben dann gesagt, dass es immer auf das einzelne Werk ankommt: Sobald es mit den Verbindlichkeiten und den Verantwortlichkeiten einhergehen kann, sobald klar ist, warum es notwendig ist, eine bestimmt Bewegtbildwahrheit herzustellen, sind alle Möglichkeiten erlaubt. Wenn sie denn im Kontinuum des Produzierens und des Darstellens und des Diskutierens Bestand haben und eben eine Notwendigkeit besteht.

Es gab aber für Sie persönlich nie den Reiz, das Festival explizit für den Spielfilm zu öffnen? Oder zumindest eine Sektion für die Mischformen und die Filme einzurichten, die an der Grenze der Genres arbeiten?

Nein, wenn man eine Schiene machte, würde das ja bedeuten, dass man eine Trennung macht. Eine Sektionierung, Vivisektion. Ich bin dagegen. Jede und jeder soll selber gucken, inwieweit das Spiel bestanden wird, vom Zuschauer als notwendig erachtet wird. Das würde außerdem bedeuten, dass man sich als Zuschauer zwischen den Schienen entscheiden muss. Ich finde gut, wenn das Kontinuum auch eines ist, dass sich gegenseitig ergänzt und konfrontiert im Laufe der Woche. Wo Leute ab dem Zeitpunkt, wo sie kommen, ein paar Protokolle schnüffeln können von den Filmen die sie nicht sehen konnten, aber dann in dem gemeinsamen Diskurs sind und überprüfen, was Bewegtbild in der Darstellbarkeit der Welt ist. Die Einheit von Sehen und Reden ist mir wichtig. Es gibt ja außerdem doch eine Art von Nachtschiene: Viele Diskussionen gehen ja spät abends und nachts in den Kneipen weiter.

Es ist immer schade, wenn man sagen muss: „Oh, ich habe einen Film verpasst“. Das Rattenrennen in Berlin, man trifft Freunde und alle sagen: „Ich habe gehört, da und der oder die empfiehlt den“ und so weiter. Und dann steht man da im Hotel, und dann schwärmt man aus und hechelt von da nach da, und am Abend trifft man Leute, und nur wenn man Glück hat, hat man einen Film gemeinsam gesehen und kann über den reden. In Berlin ist das notwendig, obwohl wir auch wissen, dass Dieter Kosslik deswegen im Gegenwind stand. Aber hier war und ist das keine Option, solange ich noch mitreden kann.

Ich denke, die Festivalbesucher sind sich darüber einig, dass das Besondere am Kino auch der Umstand ist, Filme gemeinsam zu sehen. Trotzdem gibt es abseits der Festivals die Tendenz der Vereinzelung, die Leute holen sich ihre Filme über VoD nach Hause. Wie kann man dem begegnen? Man kann sich dieser Entwicklung ja nicht verschließen.

Ich denke, dass diese Vereinzelungstendenz langsam schon wieder ein bisschen bröckelt. Ich glaube, dass die Kommunität, deshalb auch die Renaissance von Hannah Arendt, wieder mehr erwünscht wird. Und deshalb haben wir auch das Motto „Handeln“ genommen, was ja auch am Rande mit Hannah Arendt zu tun hat. Dass die Gemeinschaftlichkeit, also die Öffentlichkeit unter Anwesenden eine ist, die viele als notwendig empfinden, weil Öffentlichkeit unglaublich auf dem absteigenden Ast ist. Wo gibt es noch Gegebenheiten, wo man forensisch öffentlich zusammen zu tun hat? Reden kann, anderen zuhören kann, wie auf dem Marktplatz. Ist ja nicht ohne Grund, dass solche Öffentlichkeitstheorien immer zurück gehen auf die Agora und den Marktplatz. Das wird weiter so bleiben, auch als Fest der Diskussion und Freundschaft der Differenz. Man kann daneben, wenn man hört, der Koepp hat diesen oder jenen Film gemacht, auch sagen: Den muss ich ich mir mal suchen. Vielleicht gibt’s den auf YouTube oder so. Ich denke, dass es irgendwann, wenn die richtigen Leute sich darum kümmern, auch mal einen Kanal geben kann, wo man dafür bezahlt, dass man wichtige Dokumentarfilm sehen kann.

Wir möchten auch, wenn wir ein bisschen Geld vom Land bekommen, unsere Protokolle bereichern und Links von den Filmen hinzufügen, wenn die Autoren einverstanden sind. Und auch Presse, dass man sozusagen mit den Filmen in verschiedenen Kontexten arbeiten kann und sich selber fortbildet. Es ist ja nun mal so, dass in den letzten fünfig Jahren der Dokumentarfilm mehr über die Geschichte der BRD und der DDR aussagt als so manche Spielfilme, die das mehr symbolisch machen.

Ich bin in der prägenden Phase vom Dokumentarfilm ergriffen worden, und er hat mich nie losgelassen. Ich merke auch, dass früher Leute an den Hochschulen in Hamburg oder Berlin oder München zum Dokumentarfilm gingen, weil die anderen Plätze schon belegt waren. Und jetzt gibt es immer mehr Leute, die sagen: „Ich möchte Dokumentarfilm machen.“ Obwohl sie ganz genau wissen, dass mit dem Dokumentarfilm das Prekariat schon im zweiten Semester beginnt.

Ich würde gern noch auf die generelle Entwicklung des Dokumentarfilms zu sprechen kommen. aus Ihrer Perspektive eines Festivalmachers, der sich engagiert um dieses Genre kümmert. Lassen sich da für die letzten 40 Jahre in einer kurzen Form die wichtigsten Meilensteine markieren?

Es gibt so drei oder vier, ich hoffe, ich kriege die in die richtige Reihenfolge. Das eine war der bestimmte Regionalismus und die Zuwendung zum einfachen Leben. Zur Arbeitswelt, zur Gegenöffentlichkeit. Denn vorher kam der normale Mensch nicht vor im Fernsehen. Und deswegen waren da Streikfilme, Filme aus Lebensumwelten („meine Mutter macht das und das und das“) eine wichtige Sache, die dann, Stichwort „Gegenöffentlichkeit“  sehr artikuliert und prononciert von den Mediengruppen übernommen wurde. Und damit kam dann schon der zweite Aspekt, den man als Markierung nennen kann: die digitalen Medienarbeiter, die mit der Videokamera loszogen. Die Bewegung schwappte hier rein, und die Leute haben in Duisburg ihre Fime gezeigt. Die Diskussion war damals groß: „Der Ružička zeigt jetzt diese ganzen Videos!“

Das war in den achtziger Jahren?

Ja. Und dann irgendwann habe ich gegrinst, als es im alten Arsenal in Berlin irgendwann ganz verschämt hießt, wir zeigen jetzt die Godard-Reihe auf Video. Leider!

Dann war der nächste Schritt, dass mit der Wende, die Befürchtung entstand, dass so eine Art Germano-Zentrismus entstehen könnte. Und ich dachte, da ich immer schon mit so manchem Neidgefühl in die Schweiz und vor allem nach Wien in die cinephile Hochburg mit wunderbaren Dokumentarfilmen fuhr, um Dokumentarfilme zu sehen, ein Gegengewicht könnte sein, dass wir auf den deutschsprachigen Film erweitern. Wir suchen jetzt ein anderes Maß, einen anderen Zuschnitt für die Filmwoche, und die Sprachlichkeit könnte einer sein. Am Anfang war es schwierig, denn einige sagten, jetzt fangen die Deutschen auch noch an, den österreichischen und den Schweizer Film zu vereinnahmen. Das klappte aber ganz gut, und heute sind die Filme aus der Schweiz und Österreich gern bei uns.

Aber noch davor in den Achtzigern – das war jetzt doch die falsche Reihenfolge – war das, was man hinterher Essayfilm nannte. Stichwort: Wenn Bilder denken, und wann können Bilder denken? Ein schönes Buch gibt es dazu von Volker Pantenburg. Harun Farocki und Hartmut Bitomsky waren da sehr wichtig. Und dann fing es auch an, dass das Reden sich aus dem filmwissenschaftlichen Jargon befreite, und dann kamen die französischen Theorien über Film und Diskurs. Dann wurde Foucault, wie schon erwähnt, wichtig und die Filme analytischer und dann auch befreiter. Sie lösten sich von der überkommenen Begrifflichkeit: Ein Dokumentarfilm muss so und so und so sein, nur das zeigen, was man sieht, keinen Ton drauf.

Direct Cinema.

Ja, genau. Wildenhahn hat das am Ende selbst durchbrochen, aber das war damals noch eine scholastische Angelegenheit, die auch ausgetragen wurde, in der Kreimeier-Wildenhahn-Debatte. Da war Farocki sehr wichtig, er war immer hier, auch so als Anreger. Er sagte immer, in Duisburg kann jeder mit jedem sprechen, das wurde auch weidlich ausgenutzt.

Heute sagt man zu einem jungen Filmmacher, tolle Idee, aber bitte schreib nicht, ein Essayfilm von, sonst schreien die von den Fernsehanstalten auf, und das nicht ganz zu unrecht. Aber das war eine entscheidende Sache. Und jetzt sind wir ganz woanders. Um noch mal auf Harun zu kommen – seine letzte große Rede war im Documentary Forum, da hat er so ein Ergebnis von seinen Recherchen zur Digitalität vorgestellt. Er schilderte, wie Wissenschaftler, Physiker und Techniker über das Digitale urteilten: Dass es mehr Wirklichkeit darstellen kann, als man überhaupt aufnehmen kann. Und jetzt, wo das Bild sozusagen in einer Hyperkünstlichkeit ist, jetzt kann der Film zeigen, was er wirklich kann. Das fand ich toll. Das war ein Jahr, bevor er starb. Im Nachhinein die Bilanz: Jetzt! Jetzt kann der Film zeigen, was er kann! Und dann war sein letzter Film auch prompt in Super-16, wunderschön. Das waren so Diskussionen, die in Duisburg immer parallel liefen und dann auch eine bestimmte Notwendigkeit bekamen.

Ich habe eine Sache vergessen, die kontinuierlich ist. Die Beschäftigung mit der Geschichte, die nie zu Ende geht, wie der Film von Ruth Beckermann, den wir heuer zeigen, das war eine Sache, die immer bei uns wichtig war.

Das war jetzt ein schöner Bogen. Und wo stehen wir heute? Nach Farockis Lob auf das Digitale, was sieht man heute bei den ganz Jungen?

Was ich merke, ist, dass sie sich aufgrund der ziemlich guten technischen Ausbildung an den Schulen – bisschen wenig Filmgeschichte, okay – den künstlerischen Möglichkeiten des Digitalen zuwenden. Zwei Beispiele: ein Film von Pary El-Qalqili und Christiane Schmidt, Nachbarn, und Walden von Daniel Zimmermann. Beide haben entdeckt, was es dramaturgisch bedeuten kann, wenn man mit dem Panoramaschwenk arbeitet. Für die Rezeption, für ein Zeitgefühl, für das Rekursive und für die Raumeroberung und Zeitvermessung. Das haben die auf ganz verschiedende Weise getan. Nachbarn ist ein Film über Gebäude und Orte, an denen Anschläge auf Migranten verübt wurden. Das ist total spannend, wie sie in den internen Möglichkeiten Wirklichkeit so erkunden. Auch im technischen Bereich Nuancen erzählen. Man kann auf der großen Leinwand, was ich liebe, in den Bildern lesen. Man kann es, glaube ich, als gesichert ansehen: Der Körper ist ein Resonanzboden, der, wenn man auf einen kleinen Bildschirm guckt oder auf eine große Leinwand, etwas völlig anderes sieht, eine andere Sensation erfährt. Es passieren so bestimmte Sachen mit dem Körper, und das ist auch ein Argument für eine kollektive Öffentlichkeit. Ob das überleben wird…

Das ist meine nächste Frage. Was sind die Herausforderungen die an den Dokumentarfilm? Einerseits wird beklagt, dass es immer weniger Geld für den Doumentarfilm gibt, die Sender weniger geben (können) und andererseits werden Dokumentarfilme in der Regel nicht im Kino gezeigt oder eher selten.

Ja, das eine ist eine Initiative in der Medienpolitik. Man muss den Anstalten klar machen, dass ihre Reputation darin liegt, dass sie Kunst fördern und nicht darin, dass sie nur so einen Programmkleister bedienen. Und das andere ist, dass beispielsweise bei 3Sat das Programm, das parellel zur Filmwoche läuft und besondere Dokumentarfilme zeigt, bessere Einschaltquoten hat als viele andere Programme. Also: Es kann sein, dass auf diesem Wege die marginalisierten Redakteure wieder mehr Kompetenz und Geld bekommen.

Das ist eine politische Initiative.

Ja, und die zweite Sache wäre eine ständische Initiative. Dass man so einen Kanal bildet. Bert Rebhandl zum Beispiel veranstaltet so eine Art Freundschaftskino, zu Hause, mit einer großen Leinwand. Das ist etwas wo man eine Art Melange hat von Kino und zugleich eine Kollektivität des Sehens. Aber ich halte auch große Stücke auf diese Pay-for-View-Sachen. Ich würde gern bezahlen, um gute Filme online zu sehen.

Also eine VoD-Plattform mit einem kuratierten Programm für Dokumentarfilm. Kritiker werfen Festivals ja gern vor, dass sie Programm für die Branche machen und unter sich bleiben und nicht fürs Publikum. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Ich muss dem zum Teil zustimmen. Andererseits setzt sich das Publikum so zusammen: Es gibt ein Drittel Branche, ein Drittel Studenten und ein Drittel „normales“ Publikum.

Auch hier in Duisburg?

Ja. Aber hier gibt es auch einen „Braindraught“. Die jungen Leute, die etwas drauf haben, gehen nach Köln oder nach Hamburg, Berlin oder München. Das ist ein Problem. Duisburg hat es beispielsweise nie geschafft, irgendeine Medieninstitution zu installieren. Nur so ein blödes Lokalradio oder Lokalfernsehen. Und ich glaube auch, dass wir ein Recht darauf haben. Es gibt ja auch Leute, die bestehen darauf, Oper zu sehen und nicht Operette. Wir haben als Bürger einen Anspruch darauf, in dem Bereich etwas mitzubekommen. Und der Dokumentarfilm ist einer, der nicht per se elitär ist. Manchmal bringt er das Populäre auch mit dem Anspruchsvollen zusammen. Unser Eröffnungsfilm Kulenkampffs Schuhe bot die Gelegenheit, einen Film zu zeigen, der das Populäre im Titel schon anbot und gleichzeitig unserer Meinung nach ein toller und brillanter Dokumentarfilm ist. Und bei Ruth Beckermanns Waldheims Walzer klappt das auch, da kommen auch Leute. Aber wir setzen uns andererseits auch nicht unter den Druck, etwas Populäres zeigen zu müssen.

Nach dem diesjährigen Abschlussfrühstück zeigen die Mitarbeiter Ihren Film „Matte Wetter“ aus dem Jahr 1981. Wie war bzw. ist es um die Ambition des Filmemachens bei Ihnen bestellt?

Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich das nicht habe, was einen Dokumentarfilmer ausmacht, nämlich ein Kameraauge. Ich fotografiere auch nicht, ich kann’s nicht. Ich nehme auf, aber ich kann nicht so fokussieren. Ja, ich kann mit Leuten quatschen, aber das reicht ja nicht. Und deswegen habe ich gemerkt, dass das nichts für mich ist. Theater hätte ich mir vorstellen können, in einem geschlossenen Raum. Aber dieses Talent, da zu gucken und da zu ahnen, wie Koepp das kann, der sofort weiß, wo sein Kameramann stehen muss, das könnte ich nicht. Und deswegen war es mir ganz recht, dass mir diese Entscheidung auch durch den Job hier abgenommen wurde.

Und wie geht’s weiter? Für das Festival und für Sie persönlich? Es öffnen sich ja auch Räume, wenn man mehr Zeit hat.

Ich hoffe, dass ich weiter meine kleinen Lehraufträge machen kann, auch für das Goethe-Institut irgendwas. Ansonsten bleibe ich hier wohnen. Auch weil der Schritt in das Rentenalter einer in die ökonomischen Begrenzungen ist. Und Duisburg ist mir, da ich in meinem Alter die Clubszene nicht mehr so wahrnehme, ganz recht. Es gibt eine Konzentration und es ist ökonomisch besser als in Düsseldorf zum Beispiel. Außerdem hat Duisburg ein wunderbares Eisenbahnkreuz, man ist hier sehr schnell in Amsterdam, in Berlin, in Hamburg. Der Bahnhof ist um die Ecke von mir, und deswegen hat man Fluchtwege. Und ein Privileg meiner Arbeit war, dass ich herumkam, ich habe Freunde überall, und ich kann da auch manche Freundschaften wieder mehr pflegen.

Und ein kleiner Plan, den aber Freunde sehr kritisch sehen, ist, ein Buch zu schreiben über Dokumentarfilm-Dramaturgie. Da sagen Freunde, Werner, das ist ein ganz einsamer Job! Und ich bin ja sowas von hyperkommunikativ, dass ich gucken muss, ob ich es schaffe, acht Stunden am Computer auszuhalten. Man wird sehen.

Und wer wird das Festival leiten?

Wir haben da einen guten Plan. Ich hoffe, dass der Dezernent und die Stadt Duisburg noch in diesem Jahr sagen, wer’s werden wird.