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Chucks

In den Schuhen meines Bruders

| Angela Sirch |
Die Romanverfilmung „Chucks“ erzählt eine Coming-of-Age Story über den Sinn, den Tod und die Liebe auf eine erfrischend neue Weise.

Trotzig, stur, aufbegehrend, unruhig. Das ist Mae. Eigentlich Maeva, aber das sagt niemand. Doch wie jeder Mensch, vor allem, wenn man sich auf dem Weg zum Erwachsenwerden befindet, ist Mae viel mehr als das, was sie nach außen trägt. Sie ist verletzlich und auf der Suche. Auf der Suche nach Heilung für alte Wunden, nach Liebe, nach Worten, um ihre Sicht auf das Leben auszudrücken. Es verwundert nicht, dass sie einen riesigen Schmetterling an eine Wohnungswand sprayt. Ganz im Gegenteil. Er wirkt wie ein Spiegelbild ihres Wesens. Stark und zerbrechlich zugleich. Im einen Moment leuchtet er, im anderen versinkt er im Dunkeln.

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Mae lebt kein normales Leben. Sie hat die Schule abgebrochen, hat keine Habseligkeiten außer den zerfledderten Chucks ihres verstorbenen Bruders, schnorrt Passanten um Geld an, lebt mit ihrem Freund Jakob in einer besetzten Wohnung, klaut Spraydosen aus dem Baumarkt und verwendet diese nachts, um abgestellte Züge oder Hausfassaden zu verschönern. Bei einer dieser Aktionen wird sie geschnappt, und da die Liste ihrer Verfehlungen nun zu lang ist, muss sie gemeinnützige Arbeit in einer Einrichtung für Menschen tun, die auf andere Weise ebenso weit weg von einem normalen Leben sind wie sie: im Aids-Hilfe-Haus. Mae ist genervt, unfreundlich und teilt die Leute in Kategorien ein, bis sie Paul kennen lernt, der an Aids und Hepatitis C leidet.

Paul lässt sich nicht so leicht in eine Schublade stecken. Mit seiner weisen und geordneten Art ist er wie ein Gegengewicht zu Maes unruhigem Wesen. Zwischen den beiden entwickelt sich Liebe, und Mae geht mit ihm jenen schwierigen Weg, den sie bei ihrem Bruder, den sie vor vielen Jahren an den Krebs verloren hat, nicht gehen konnte. Zumindest nicht so, wie sie es gerne gewollt hätte. Beschönigende Geschichten, sich entzweiende Eltern und beklemmendes Schweigen haben ein Loch in Mae und die Beziehung zu ihrer Mutter gerissen, das erst Paul mit seiner Ruhe und den richtigen Fragen wieder zu füllen scheint.

Vom Wort zum Bild

Mit Chucks, der Verfilmung des erfolgreichen Romans von Cornelia Travnicek, wagt sich das Regie-, Drehbuch- und Produzenten-Duo Gerhard Ertl und Sabine Hiebler an die Untersuchung einer der schwierigsten und aufwühlendsten Phasen unseres Lebens. Bereits in ihrem sowohl national als auch international vielfach ausgezeichneten jüngsten Film Anfang 80 haben sie ihr Können in Bezug auf Figuren- und Konfliktzeichnung bewiesen, was sie bei Chucks auf bewegende Weise wiederholen. Literaturverfilmungen stellen immer eine besondere Herausforderung dar, besonders bei Romanen, die so populär sind wie Travniceks „Chucks“.

Es ist die Kunst, aus dem geschriebenen Wort, das stets mehr Platz, Zeit und umfangreichere Möglichkeiten hat, innere Vorgänge zu beschreiben, als das bewegte Bild, eine komprimierte Geschichte zu entwickeln, die das Buch widerspiegelt und doch eine neue Sprache findet. Dieser Drahtseilakt ist Ertl und Hiebler gelungen. Travniceks Roman schöpft seine Faszination unter anderem auch daraus, dass er ständig in Zeit und Raum hin und her springt und der Leser manchmal nicht mehr weiß, wo er sich gerade befindet. Da diese Erzählweise im Film nicht den gleichen Effekt hätte, wird die Geschichte hier in einer durchgehenden Zeitebene erzählt. Darüber hinaus wurden einzelne Nebenfiguren, Eigenschaften mehrerer Figuren in einer komprimiert, und Maes Freundeskreis verbringt die Zeit nicht, wie im Buch, mit Drogen am Karlsplatz, sondern mit Spraydosen in besetzten Häusern.

Auch werden vor allem bei der Hauptfigur die charakterlichen Kanten an manchen Stellen geglättet und an anderen zugespitzt. So wird Mae, anders als im Buch, wegen Sachbeschädigung zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt und nicht wegen Körperverletzung, und die härtesten Drogen im Film sind Alkohol und Gras. Auf der anderen Seite wirkt Travniceks Mae etwas mehr hin- und hergerissen zwischen der bockigen Schutzwand, die sie durch ihr Verhalten um sich herum gebaut hat, und dem verletzlichen, zurückhaltenden Inneren, das in ihr schlummert und darauf wartet, von einem liebevollen Menschen überzeugt zu werden. Im Film blitzt dieses zweite Gesicht vor allem zu Beginn des Films wesentlich zaghafter auf.

Doch auch wenn es einige Veränderungen im Vergleich zur Vorlage gibt, schafft es der Film, die Essenz der Hauptfigur einzufangen, was nicht nur dem guten Drehbuch, sondern zu einem großen Teil auch dem intensiven Spiel von Anna Posch zu verdanken ist, deren Können man in den kommenden Jahren hoffentlich in zahlreichen Produktionen bewundern darf. Und noch zwei weitere Faktoren sorgen für den Feinschliff, der die Atmosphäre des Films so eindringlich macht, dass man gar nicht anders kann, als von ihr gefangen genommen zu werden: Kameraführung und Musik. Ertl und Hiebler, die ursprünglich mit Found-Footage-Material gearbeitet haben, setzen erneut auf die Zusammenarbeit mit Kameramann Wolfgang Thaler, der wie schon bei Anfang 80 mit einer Handkamera arbeitet, so stets nahe an den Darstellern dran ist und dadurch ein noch persönlicheres, durchdringendes Bild erschafft. In puncto Score hat man sich gegen eigens produzierte Kompositionen entschieden und präsentiert stattdessen einen eindrucksvollen Querschnitt der heimischen Musikszene. Von Soap&Skin über Clara Luzia und Monsterheart bis hin zu Bilderbuch und Julian & der Fux spannt sich der Bogen, der nicht nur zu der Jugend-Szene und zu den Lokalen passt, in denen Mae lebt, liebt und tanzt, sondern in seinem Wechselspiel aus Freude, Rhythmus und Melancholie die Geschichte perfekt widerspiegelt.

Vom Schein zum Sein

Chucks schafft es, die wesentlichen Erfahrungen und Gefühle der Jugendzeit wie Liebe, Verlust, Rebellion, Sinnsuche, Verwirrung und Wut in eine berührende und außergewöhnliche Geschichte zu packen. Der Film zeigt, wie unterschiedlich Menschen mit dem Tod umgeht. Der eine schweigt, um zu verdrängen, den anderen zerreißt es beinahe vor unausgesprochener Trauer. Der Film zeigt aber auch, dass Familie nicht unbedingt nur aus Blutsverwandtschaft entsteht, sondern auch eine Gemeinschaft sein kann, für die man sich selbst entscheidet, Verantwortung übernimmt und an der man wächst. Je länger man Mae auf ihrem Weg beobachtet, desto mehr zeigt sich, dass man zuerst lernen muss, zu reflektieren und die eigenen Worte zu finden, bevor man nachvollziehen kann, warum die Menschen um einen herum oft ganz anders mit dem Leben und den Prüfungen, vor die es einen stellt, umgehen. Das scheint die größte und unangenehmste Herausforderung des Erwachsenwerdens zu sein, aber auch jene, die einen zu sich selbst führt.